Herr der Krähen
Muskeln zu betätigen. Er würde nie zulassen, dass sein eigen Fleisch und Blut eine Verbindung mit derartigem Elend einging.
So streiften Nyawĩra und Kaniũrũ einander ohne den Segen eines dankbaren Vaters die Trauringe auf die Finger. Die erhoffte Menschenmenge beschränkte sich auf den Standesbeamten, und die Trauzeugen waren ein Mann und eine Frau, denen sie erst kurz vor der Trauung begegnet waren. Damit war der Bruch zwischen Vater und Tochter besiegelt und Wangahũ fragte sich unaufhörlich: Warum hat sie mich in aller Öffentlichkeit bloßgestellt, warum? Sie hat mich vor meiner gesamten Kirchgemeinde nackt dastehen lassen, warum nur? Warum hat sie mich zum Gespött aller gemacht? Warum brennt sie mit einem Mann durch, der arm ist und nicht einmal eine Familie hat? Wie will er sie ernähren? Etwa indem er auf der Straße handgeschnitzte Giraffen und Rhinos an Touristen verhökert?
Die Entfremdung zwischen Vater und Tochter führte zu Spannungen zwischen dem jungen Paar. Kaniũrũ sah die Nabelschnur, die ihn aus seinem Meer von Schwierigkeiten herausziehen sollte, durchtrennt. Nyawĩra war jetzt der einzige Mensch, der noch über die Mittel und Möglichkeiten verfügte, alles wieder einzurenken. Sie waren gerade erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, als Kaniũrũ Nyawĩra zu drängen begann, ihren Vater auf Knien um Vergebung zu bitten. Nyawĩra aber war fest entschlossen, mit ihrer Vergangenheit zu brechen. Sie wollte es aus eigener Kraft schaffen und sich Achtung erwerben durch harte Arbeit, durch die schlichte Würde ihres gemeinsamen Heims und durch ein glückliches Familienleben. Das junge Paar zankte sich jeden Tag. Kaniũrũ hörte nicht auf, ihr zuzusetzen. Auch dann nicht, als er eine Anstellung am Ruler’s Polytechnic in Eldares gefunden hatte. Immer wieder machte er ihr den Vorwurf, durch ihre Weigerung, sich mit ihrem Vater zu versöhnen, ihr gemeinsames Leben zu ruinieren, bis Nyawĩra eines Tages explodierte: „Wolltest du mich oder das Geld meines Vaters heiraten?“
Auf dem Höhepunkt ihres Streits gingen sie zum District Commissioner, ließen sich scheiden und gaben ihre erfolglose eheliche Gemeinschaft nach nicht einmal einem Jahr wieder auf.
Für Nyawĩra war es ein neuer Weg in die Freiheit. Kaniũrũ hingegen meinte, er sei von seinem Pfad zum Reichtum abgekommen, und versuchte immer wieder, sie zurückzugewinnen.
Nyawĩra musste lachen, als sie Kamĩtĩ von all den jämmerlichen Versuchen erzählte.
Die beiden Bettler saßen inzwischen am Tisch, ließen sich ugali mit Kohlgemüse schmecken, das Nyawĩra schnell in der Küche zubereitet hatte. Kamĩtĩ war ihr insgeheim dankbar. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gutes traditionelles Essen bekommen hatte, und musste sich sehr beherrschen, nicht alles herunterzuschlingen.
Das kleine Haus bestand aus einem Schlafzimmer, an dessen Wand gut sichtbar eine Gitarre hing, einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Bad mit Toilette und Dusche. Die beiden hatten bereits geduscht und sich umgezogen: Kamĩtĩ in Hemd und Hose, die er immer trug, wenn er auf Arbeitssuche war, Nyawĩra im einfachen Hauskleid.
„Und was macht Kaniũrũ jetzt?“, fragte er.
„Ich glaube, er ist immer noch Lehrer am Ruler’s Polytechnic. Vor Kurzem ist er angeblich den glorreichen Jugendbrigaden des Herrschers beigetreten. Nach dem Zwischenfall mit den Schlangen im Park hat der Herrscher in seiner berühmten Fernsehrede an die Nation über sie gesprochen, als Versuch, die Jugend von der Propaganda der Bewegung für die Stimme des Volkes abzulenken.“
„Wirklich ein neues Aburĩria“, meinte Kamĩtĩ trocken. „Ein Collegelehrer als Mitglied der Jugendbrigaden!“
Sie schwiegen.
„Und wie bist du als Bettlerin auf der Straße gelandet?“, fragte Kamĩtĩ, der überlegte, ob sie seine verzweifelte Lage teilte. Hatten ihre Scheidung von Kaniũrũ und das Zerwürfnis mit ihrem Vater etwas damit zu tun? „Ich hätte nie geglaubt, einer Frau mit Universitätsabschluss als Bettlerin zu begegnen!“
„Hast du nicht gerade von einem neuen Aburĩria geredet? Wenn fünfzigjährige Hochschuldozenten bei den Jugendbrigaden des Herrschers mitmachen dürfen, warum sollen dann Universitätsabsolventen nicht Bettler werden?“
„Ich meinte nicht Universitätsabsolventen im Allgemeinen, sondern Frauen mit Abschluss. Wie du zum Beispiel.“
„Trifft schlechtes Wetter bevorzugt Männer oder Frauen? Setzt die Sonne nur Männern zu,
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