Herr der Krähen
Tränen oder Gelächter hervorzurufen. Sie war eine außergewöhnliche Schauspielerin. Sie konnte sich in jede Figur verwandeln, und das mitunter so realistisch, dass selbst diejenigen, die sie gut zu kennen glaubten, weil sie sie bei vielen politischen Diskussionen der Studenten erlebt hatten, oft nicht sagen konnten, ob das auf der Bühne wirklich Nyawĩra war. Aber auch Geschichte erregte ihre Neugier, ähnlich wie der Schauplatz eines Verbrechens einen Kriminalpolizisten. Die Geschichte, vor allem die afrikanische Geschichte, war der Schauplatz vieler Verbrechen mit vielen einander widersprechenden Zeugen. Historiker waren Detektive auf diesem Feld, und sie mochte die Herausforderung, die verschiedenen Teile eines Puzzles zusammenzusetzen und die verborgenen Umrisse der vergangenen Ereignisse sichtbar zu machen. Zu guter Letzt war ihr Leben in der „beau monde“ dem Streben nach einer idealen Gesellschaft gewichen. Und dieser Wandel in ihrer Weltsicht führte zum Bruch mit ihrem Vater.
Matthew Charles Wangahũ wünschte sich, dass seine Tochter in eine wohlhabende Familie einheiratete, damit der Wohlstand noch mehr Reichtum, Macht und gesellschaftliches Ansehen bringen würde. Vor dem Unfall war auch ihr das als selbstverständlich, ja unvermeidlich erschienen. Jetzt aber wollte Nyawĩra einen Mann heiraten, mit dem sie eine neue Zukunft gestalten konnte. Im College begegnete sie einem jungen Mann, der ihrem neuen Traum von Selbstverwirklichung entsprach.
Kaniũrũ war Künstler und ging ganz in seiner Kunst auf. Obwohl ihm die Studentenpolitik vollkommen gleichgültig war, schien er nichts gegen ihr Engagement zu haben. Er gehörte nicht zu den Männern, die ihren Freundinnen oder Frauen verboten, sich zu öffentlichen Angelegenheiten zu äußern, oder zu denen, die glaubten, Politik und staatsbürgerliche Angelegenheiten seien Männerdomänen. Sie wiederum glaubte, den Gefährten ihres Lebens gefunden zu haben, weil Kaniũrũ eben nicht aus einer wohlhabenden Familie kam. Er erzählte ihr, dass er als Waise aufgewachsen war; seine Eltern waren gestorben, als er noch klein war, und seine Großmutter, die ihn bei sich aufgenommen hatte, starb, als er aufs College wechselte. Nyawĩra hatte Mitleid mit ihm und verliebte sich in ihr Idealbild eines Mannes, der sich alles selbst hart erarbeiten musste.
Grace Nyawĩra merkte nicht, dass Kaniũrũ ihre Vorstellung von einer reinen und glückseligen Verbindung nicht teilte. Wenn seine Blicke auf ihr ruhten, dann sahen sie neben ihrem guten Aussehen auch die verlockende Aussicht auf Wangahũs Wohlstand und Besitz. Durch Nyawĩra könnte er aus den Niederungen von Armut und Elend in den Himmel des Müßiggangs und des Wohlergehens aufsteigen. Er träumte von dem Tag, an dem Nyawĩra und er durch das Mittelschiff der Kirche hinauf zum Altar schritten, Nyawĩra in weißem Satin und er in einem umwerfend gut aussehenden dunklen Anzug mit einer Blüte im Knopfloch. Zehn Brautjungfern waren dabei und zehn Trauzeugen, eine gewaltige Trauung mit hundert Mercedes-Benz-Limousinen, die Stoßstange an Stoßstange die Ehrengäste zur anschließenden Hochzeitsfeier brachten. Sich an den Händen haltend, würden Nyawĩra und er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, glücklich Rede um Rede all der Würdenträger über sich ergehen lassen, dieses endlose Vorspiel zu dem Augenblick, in dem Nyawĩra und er die zehnstöckige Hochzeitstorte anschnitten. Jedes Mal, wenn Nyawĩra dieses Glitzern in seinen Augen bemerkte, glaubte sie, darin den Widerschein von Verlangen und Liebe zu sehen, und kam sich angesichts seiner großen Hingabe sehr klein vor. In Nyawĩras Träumen dagegen gab es nur eine bescheidene Zeremonie, kein Zurschaustellen von Überfluss. Sie wünschte sich eine Feier für das Leben, keine Darstellung seiner Verneinung.
Was ihren Vater Wangahũ betraf, wäre er überrascht gewesen zu erfahren, wie weit seine Vorstellungen mit denen Kaniũrũs übereinstimmten. Aber Wangahũs Verachtung für alle, die es nicht geschafft hatten, saß so tief, dass er selbst eine Übereinstimmung in ihren Vorstellungen als Anmaßung des Mittellosen aufgenommen hätte. Der Gedanke, seine Tochter könnte einen Mann heiraten, der nicht einmal eine Familie hatte, war ihm zu quälend, um so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Und was war schon ein Künstler? Bilder zu malen war für Wangahũ der Zeitvertreib von Krüppeln, Kindern, schwachen Frauen oder Männern, die sich scheuten, ihre
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