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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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erwiderte Kamĩtĩ. „Warum hast du solche Angst? Bitte, ich will mich wirklich nicht in dein Privatleben einmischen, aber wo warst du letzte Nacht?“
    „Ich verstehe. Und du hast recht, du verdienst eine Antwort. Also bitte, geh heute nicht fort“, sagte Nyawĩra. „Ich muss pünktlich im Büro sein, aber heute Abend, wenn ich zurückkomme, können wir ausführlich reden und ein paar Dinge klären. Wie ich dir vorgestern Abend schon gesagt habe, gehöre ich zur Bewegung für die Stimme des Volkes. Als der Polizist die Flugblätter und die Plastikschlangen erwähnte, die wir letzte Nacht verteilt haben, hat mich das aus der Fassung gebracht. Zuerst war mir nicht klar, worauf er hinauswollte. Und wenn du in höhere Kreise aufsteigen willst, kannst du mich jetzt Seiner Königlichen Allmächtigkeit melden. Du bleibst doch, oder? Es scheint, als hättest du wirklich Zauberkräfte“, setzte sie ironisch hinzu, bevor sie sich anzog und ging.

18
    Kamĩtĩ machte sich Sorgen, weil Arigaigai Gathere befördert und in das Büro des Herrschers versetzt worden war. Das Ganze trug sich nämlich unmittelbar nach Kamĩtĩs dilettantischem Hokuspokus zu. Was, wenn sein Spiel mit der Magie etwas damit zu tun hatte? Besaß er, ohne es zu wissen, tatsächlich okkulte Kräfte? Er befand sich zweifellos in Schwierigkeiten.
    Er hatte ein Spiel aus seiner Kindheit aufgegriffen, um einem Polizisten zu entkommen. Doch jetzt, nach seiner Beförderung, würde Constable Arigaigai Gathere auf die Jagd nach Staatsfeinden gehen. Nyawĩra hatte eben zugegeben, Mitglied der Bewegung für die Stimme des Volkes zu sein. Was sollte A.G. davon abhalten, unter dem Deckmantel weitere Weissagungen haben zu wollen, Nachforschungen bei ihnen anzustellen. Kamĩtĩ kam sich schutzloser vor denn je.
    Kamĩtĩ wollte ein normales Leben führen, abseits der Politik. Seiner Abneigung politischem Engagement, vor allem Massenbewegungen gegenüber lagen Erfahrungen seiner Familie zugrunde. Sein Vater, ein ehemaliger Grundschullehrer, hatte seine Stelle verloren, weil er versucht hatte, die Lehrer seiner Region in einer Gewerkschaft zusammenzuschließen. Und sein Großvater war in den Kämpfen für die Unabhängigkeit Aburĩrias ums Leben gekommen. Politische Auseinandersetzungen hatten seiner Familie nur Elend beschert, und er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. War es nicht Ironie des Schicksals, dass ihm eben dieses politische Leben, das er so entschieden zu meiden versucht hatte, nun durch das Handeln anderer aufgezwungen wurde? Was, wenn A.G. wie angedeutet wieder auftauchte, um den Herrn der Krähen zu bitten, seine Kräfte einzusetzen, die Geheimnisse der regierungsfeindlichen Bewegung und ihrer Anhänger zu enthüllen? Würde es ihm gelingen, sich durch weitere Erfindungen aus dieser Zwickmühle herauszuwinden? Wenn Nyawĩra ihm bloß verschwiegen hätte, dass sie darin verwickelt war! Er fürchtete, es könnte etwas an seinen verrückten Einbildungen dran sein, wie die Wendung im Leben des Polizisten gezeigt hatte. Würde er am Ende unabsichtlich die Wahrheit über die Frau verraten, die so liebenswert gewesen war? Nein, Nyawĩra und Constable Arigaigai Gathere mochten ihn später vor die Qual der Wahl stellen. Er würde nicht herumsitzen und darauf warten, dass einer von beiden zurückkäme; er musste sich von beiden fernhalten. Mit diesem Entschluss fühlte er sich augenblicklich besser.
    In Gedanken stimmte er ein Lied an – „Ich gehe …“ –, aber wie aus dem Nichts hörte er die vereinten Stimmen von Nyawĩra und Constable Arigaigai Gathere, die dieselbe Melodie mit einem anderen Text unterlegten: „Nein, du gehst nicht.“ Ihre Stimmen kamen ihm so real vor, dass er sich zurückrufen hörte: „Nein! Ihr könnt mich nicht aufhalten“, obwohl er das Gefühl hatte, seinen Wohltätern gegenüber grob zu sein. Er war nicht mehr der mittellose Bettler, der er war, als er Nyawĩras Haus zum ersten Mal betrat. Er hatte jetzt das Geld des Polizisten. Doch er hätte es niemals bekommen, wenn ihm Nyawĩra nicht eine Bleibe geboten hätte.
    Er ging hinaus und grub den Behälter mit seiner Beute aus. Sie roch wie ein verwesender Leichnam. Er eilte ins Haus zurück, steckte die Plastikschachtel mit dem Geld in seine große Betteltasche, zog seine Jacke an, warf sich die Tasche über die Schulter und ging zur Tür, in der Absicht in den Straßen von Eldares zu verschwinden.
    Vor der Tür stand ein Mann.
    Der Fremde sah schwach aus, krank und

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