Herr der Krähen
ihren Ohren nicht. Wenn man ihr erzählt hätte, was sie gerade gehört hatte, sie hätte es mit ziemlicher Sicherheit ins Reich der Lüge verwiesen. Die Reichen und Mächtigen geben die wissenschaftliche Vernunft zugunsten eines unlogischen Hokuspokus auf? Diese Männer gehörten doch derselben Schicht an wie die Führer der neuen Nationen? Wie sollte die Zukunft des Landes aussehen, wenn solche Männer das Ruder in die Hand nahmen?
Plötzlich wurden ihre Gedanken von einem Schrei der Verzückung unterbrochen.
„Ich sehe etwas! Ich sehe es!“, kreischte der Mann im Ton eines Kindes, das eine neue Fertigkeit an sich entdeckt.
„Kannst du erkennen, wessen Abbild es ist?“, fragte der Herr der Krähen.
„Nein! Nein! Aber das spielt keine Rolle – dieses Abbild kann für all meine Feinde stehen.“
„Halt es fest! Halt es genau an dieser Stelle fest. Lass es nicht entwischen“, forderte Kamĩtĩ ihn auf und fing an, auf dem Spiegel herumzukratzen.
„Das Abbild ist weg. Stattdessen fallen jetzt zahllose kleine Sterne durch die Finsternis“, berichtete der Mann. „Vielleicht sind das meine Feinde, die wie zerbrochenes Glas in unzählige Splitter zersprungen sind! Das ist wunderbar! Sterne fallen um mich herum, sie lassen mich als einzigen Stern am Firmament zurück!“
„Dann ist es vollbracht. Du hast gesehen, was du zu sehen gewünscht hast. Du kannst jetzt die Augen wieder öffnen. Dein Glück liegt vor dir.“
„Danke! Vielen Dank, Herr Zauberer“, sagte der Mann. „Neue Kräfte durchströmen mich. Ich kann jetzt mit Marching to Heaven Schritt halten.“
Er ging, und sofort nahm ein anderer seinen Platz ein. Nyawĩra erschien diese Abfolge wie Bilder in einem Film, die ineinander übergehen. Die handelnden Personen mochten unterschiedlich sein, die Geschichte aber blieb immer dieselbe. Irgendwann wurde Nyawĩra es leid, ständig dasselbe zu hören, und schlief ein.
Das Plätschern von Wasser weckte sie. Kamĩtĩ duschte. Sie wartete darauf, dass er fertig war. Er schrubbte sich mit grimmiger Entschlossenheit.
„Du hast fast das ganze Wasser aufgebraucht“, sagte sie, als sie schließlich im Wohnzimmer saßen.
„Wegen des Gestanks, den sie zurückgelassen haben“, antwortete Kamĩtĩ. „Ich habe das Gefühl, ihn nie wieder loszuwerden. Schau mal aus dem Fenster, ob wirklich alle verschwunden sind.“
Nyawĩra spähte hinaus. Die Schlange der vermummten Schattengestalten schien nicht kürzer geworden zu sein. Sie schloss das Fenster und sah Kamĩtĩ skeptisch an.
„Als es auf Mitternacht zuging“, erklärte Kamĩtĩ, „habe ich eine Nachricht geschrieben. HEUTE NACHT GESCHLOSSEN. KOMMEN SIE MORGEN WIEDER. Ich habe den letzten Kunden gebeten, sie draußen anzubringen.“
„Sie machen hier dasselbe wie vor Tajirikas Büro, als ich die Mitteilung über seine Abwesenheit rausgehängt habe“, sagte Nyawĩra.
„Wovon redest du?“, fragte Kamĩtĩ verblüfft.
Sie erzählte Kamĩtĩ von ihrem Tag im Büro und den neuen Machtbefugnissen Sikiokuus, um die Bewegung für die Stimme des Volkes zu vernichten. Kamĩtĩ berichtete im Gegenzug von seinen Abenteuern als Herr der Krähen.
„Ein Traum, aus dem man nicht mehr aufwacht“, schloss er.
„Klingt eher nach einem endlosen Albtraum“, meinte Nyawĩra, schaute auf die Uhr und stand abrupt auf. „Es ist schon sehr spät. Wir brauchen morgen alle Kraft, um uns den Warteschlangendämonen zu stellen.“
„Wenn wir aufwachen“, sagte Kamĩtĩ, „werden sie verschwunden sein.“
6
Die Schlangen blieben. Eine Weile lang verdrängte die Heimsuchung von Eldares durch Warteschlangendämonen alle Nachrichten über die Global-Bank-Delegation, die Kämpfe von Mariko und Maritha mit Satan und die Saga von fliegenden Seelen und Flugblätter verteilenden Dschinns.
Nyawĩra und Vinjinia kamen täglich ungefähr zur gleichen Zeit ins Büro. Sie unterhielten sich darüber, wie merkwürdig es war, dass sich die Schlange mit den Vertragsjägern vollständig aufgelöst hatte, wobei Nyawĩra Vinjinia verschwieg, dass sie einfach nur den Ort gewechselt hatte. Vinjinias Aufforderung, etwas gegen die verbliebene Schlange zu tun, wiegelte die Polizei von Santamaria ab. Ohne den Bericht des Polizisten mit dem Motorrad, der noch immer nicht wieder aufgetaucht war, konnten sie nicht viel unternehmen. So warteten die beiden Frauen geduldig auf die Rückkehr des Motorradfahrers, die das Ende dieser Warteschlange einleiten sollte.
Die Eintönigkeit wurde
Weitere Kostenlose Bücher