Herr der Krähen
Schlacht zwischen Sonne und Wind, in der es darum geht, wer den Menschen verleiten könnte, seinen Mantel abzulegen? Der Wind bewirkt nur, dass sich der Mensch enger in seinen Mantel hüllt. Die Sonne aber schafft es, dass er sich ihr bereitwillig unterwirft. Herr der Krähen, machen Sie meine Feinde zum Wind. Und mich zur Sonne. Machen Sie mich zum Primus, zum Ersten unter Gleichen in List und Kaltblütigkeit.“
„Kennst du deine Feinde? Weißt du, wer sie sind?“
„Nicht genau. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Wir haben von Ihren erstaunlichen Fähigkeiten gehört, die Feinde eines jeden auszumachen, noch bevor man selber weiß, dass man welche hat; und dass Sie die Schatten dieser Feinde in einem Spiegel fangen können und sie anschließend vom Antlitz dieser Erde kratzen. Ich bitte Sie nicht, meine Feinde zu töten – ich bin ein gläubiger Christ und glaube an die Kraft der Vergebung – aber ich wünsche mir, dass Sie tun, was allein Sie tun können.“
„Und wer hat dir von mir erzählt?“
„Das ist eine lange Geschichte. Aber ich fasse mich kurz. Ich stand in einer Schlange vor dem Büro des Herrn Vorsitzenden Titus. Er konnte nicht ins Büro kommen, aber wir ließen nicht locker und warteten weiter geduldig einer hinter dem anderen den ganzen Tag auf ihn. Dann erzählte es ein Freund, der es von einem Freund hatte, der es wiederum von einem Freund hatte und der davon durch einen Polizisten erfahren hatte der ihn im Austausch gegen einen Obolus mit nützlichen Informationen versorgt – Sie wissen ja, wie es heutzutage in Aburĩria ist, nichts bekommt man umsonst und Informationen bedeuten Macht. Wie dem auch sei, dieser Polizist berichtete ihm, was Sie für einen seiner Kollegen getan haben: Sie haben veranlasst, dass sich seine Feinde ins Jenseits verzogen haben und dass er befördert wurde, wie er das in seinen kühnsten Träumen niemals für möglich gehalten hatte. Später, so sagen die Gerüchte, haben Sie zehn weitere Polizisten empfangen, zu denen auch dieser Informant gehörte. Also, dachte ich mir, stehle ich mich aus dieser Schlange vor Titus’ Büro davon und sichere mir größere Macht, bevor ich morgen den Herrn Vorsitzenden Titus treffe.“
Jetzt begriff Nyawĩra, warum sich die Schlange der Reichen und Mächtigen gegen sechs auf geheimnisvolle Weise aufgelöst und sie und Vinjinia verwundert zurückgelassen hatte.
„Verehrter Herr der Krähen“, sagte der Kunde gerade, „ich verspreche Ihnen, Sie werden bekommen, was Sie wollen, wenn Sie Ihren Spiegel einsetzen. Wie viel nehmen Sie für eine Weissagung mit dem Spiegel?“
„Ich verlange nichts für die Weissagung. Der Spiegel aber verlangt einige Anstrengungen und Entscheidungen von dem, der seine Kräfte bemüht, um das Verborgene offenzulegen. Der Spiegel sieht und reflektiert nur, was vor ihm liegt. Je mehr du ihm zeigst, desto mehr sieht er, je weniger du zeigst, desto weniger kann er bewirken. Die Entscheidung liegt einzig bei dem, der die Macht der Weissagung in Anspruch nimmt.“
„Geld bedeutet mir nichts“, hörte Nyawĩra den Mann rufen. „Ich wünsche mir, dass Sie den allermächtigsten Spiegel einsetzen, den es gibt. Die maximale Zauberkraft. Ich werde dem Orakel den dicksten Umschlag zu Füßen legen, den man sich nur vorstellen kann, und bin mir sicher, es wird den Spiegel zufriedenstellen.“
„Ich gewähre dir deinen Wunsch“, sagte Kamĩtĩ und begann mit denselben Schritten, denen auch Constable A.G. und die zehn Polizisten gefolgt waren. „Mach ganz fest die Augen zu. Halte nach dem Abbild Ausschau, das vor deinem geistigen Auge aufsteigt. In dem Augenblick, in dem du es siehst, musst du es dem Herrn der Krähen sagen. Sobald ich das Abbild in deinen Gedanken mit dem Spiegel eingefangen habe, werde ich ihm Hände, Mund und Augen auskratzen, um es zu schwächen. Die Schwächung der Organe des Feindes ist gleichbedeutend mit einer Stärkung der deinen. Wie bei einer Waage. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Gleichgewicht zwischen den Kräften beider Seiten zu verändern. Entweder legt man auf der einen Seite Gewicht nach oder man nimmt auf der anderen Gewicht weg. Das Weissagen ist eine Wissenschaft.“
„Nicht die Liebe zur Wissenschaft hat mich zu Ihrem Schrein geführt“, sagte der Mann voller Leidenschaft. „Ich wünsche etwas, das ohne einen erkennbaren Rhythmus oder Grund geschieht. Ich will das reine Spiel von okkulten Mächten. Ich will Magie, nicht Wissenschaft.“
Nyawĩra traute
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