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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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erst unterbrochen, als Vinjinia während der Schulferien ihre Kinder Gacirũ und Gacĩgua mit ins Büro brachte. Die Kinder wollten nicht zu Hause bei ihrem Vater bleiben, weil er unablässig denselben Satz vor sich hin bellte, und sie fürchteten, er könnte sich in einen Hund verwandeln.
    Vom Anblick der Warteschlange fasziniert, vergaßen Gacirũ und Gacĩgua die Krankheit ihres Vaters schnell. Sie standen am Fenster, schauten hinaus und stellten endlos Fragen. Waren das da draußen Schüler? Bislang hatten sie nur in der Schule erlebt, dass man sich anstellen musste. Aber bald wurde ihnen langweilig, weil kaum etwas passierte – kein Herumgeschubse, kein Versteckspiel oder wilde Verfolgungsjagden, die strenge Verweise nach sich zogen.
    Gacĩgua war der Erste, der seine Mutter bat, ihnen eine Geschichte zu erzählen, doch Vinjinia deutete auf ihre neue Tante.
    Nyawĩra sang ihnen etwas vor und rezitierte Gedichte über Webervögel und Elefanten. Aber die Kinder wollten Geschichten hören, worauf Nyawĩra erklärte, Geschichten seien etwas für die Abendstunden, für zu Hause am brennenden Feuer und nichts für den Tag in einem Büro mit Telefon. Hakuna matata . Gacirũ und Gacĩgua taten einfach so, als wäre es Abend, das Büro das Zuhause und alle Leute in der Schlange wären Zuhörer. Nyawĩra gab schließlich nach. Sie würde ihnen die Geschichte vom Schmied, dem Ungeheuer und der Schwangeren erzählen.
    „Was sind Ungeheuer?“, wollten die Kinder als Erstes wissen, und Nyawĩra erklärte ihnen, die marimũ seien menschenähnliche Wesen, die sich von Zeit zu Zeit von Menschen ernähren, vor allem von kleinen Kindern. Diese Kreaturen hätten zwei Mäuler, das eine vorn, das andere hinten am Kopf, und durch das Maul am Hinterkopf verspeisten sie Fliegen. Normalerweise aber sei das Maul am Hinterkopf unter ihren langen Haaren verborgen, die bis auf die Schultern fallen.
    „Wie bei meiner Mutter?“, fragte Gacirũ.
    „Gacirũ, willst du damit sagen, dass deine Mutter ein Ungeheuer ist?“, warf Vinjinia lachend ein.
    „Nein, meine Mutter ist kein Ungeheuer“, sagte Gacĩgua. „Sie frisst keine Menschen.“
    „Erzähl uns die Geschichte“, riefen beide im Chor.
    Es war einmal ein Grobschmied, der machte sich auf den Weg zu einer weit entfernten Eisenschmiede. Während er fort war, bekam seine schwangere Frau zwei Kinder.
    „Wie wir zwei“, sagte Gacirũ in einem Zwischenton aus Feststellung und Frage.
    „Ja, wie ihr zwei, ein Mädchen und ein Junge, aber sie waren Zwillinge.“
    „Und wie hießen sie?“, fragte Gacĩgua.
    Auf diese Frage war Nyawĩra nicht vorbereitet, denn in der Version, die sie kannte, hatten die beiden Kinder keine Namen.
    „Zu der Zeit, in der sich die Geschichte ereignete, hatte die Frau ihnen noch keine Namen gegeben“, antwortete sie.
    „Warum nicht?“, fragte Gacirũ.
    „Weil ihr ein Ungeheuer bei der Geburt geholfen hatte, das sie jetzt pflegte und das aber die Namen nicht erfahren sollte“, improvisierte Nyawĩra.
    „Und warum hat das Ungeheuer das gemacht?“, fragte Gacirũ.
    „Dummkopf. Weil der Mann nicht da war, natürlich“, mischte sich Gacĩgua ein.
    „Mama! Mama, Gacĩgua hat Dummkopf zu mir gesagt!“
    „Schluss jetzt, ihr beiden!“, rief Vinjinia herüber, „oder ich sage Nyawĩra, dass sie euch keine Geschichten mehr erzählt.“
    Das Ungeheuer war eine miese Krankenschwester. Nachdem es Essen gekocht hatte, tat es dieses auf einen Teller und stellte ihn der Frau hin. Doch sobald sie die Hand ausstreckte, um das Essen zu nehmen, zog das Ungeheuer es schnell wieder weg und sagte: „Ich seh schon, du magst mein Essen nicht. Aber das ist nicht schlimm, ich werde es selber essen.“ Genauso verhielt es sich beim Wasser: „Du magst es nicht? Dann trinke ich es für dich.“
    „Gacĩgua veralbert mich auch immer so“, klagte Gacirũ.
    „Du mich doch auch“, schoss Gacĩgua zurück.
    Sie stritten sich, beschuldigten sich gegenseitig und hätten so weitergemacht, wenn Nyawĩra sie nicht gewarnt hätte, dass sie mit der Geschichte aufhören würde.
    „Nein, erzähl uns, wie es weiterging“, bettelten die beiden.
    Alle vier bekamen dicke Bäuche: die Mutter und die Kinder, weil sie unter Kwashiorkor litten, das Ungeheuer, weil es immer fetter wurde. Eines Tages sah die Mutter im Garten einen Webervogel.
    „War das der Webervogel, von dem du gesungen hast?“, fragte Gacirũ.
    „Welcher?“, fragte Nyawĩra, die das Lied schon wieder vergessen

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