Herr der Moore
Schatten. Draußen auf dem Dach blies der Wind den Ruß vom Schornstein übers Moor und in den dichter werdenden Nebel.
Campbell stellte seine zerbeulte Bestecktasche ab und streckte sich mit einem Grunzen aus. »Er ist wach. So viel kann ich Ihnen versichern.«
»Sehr erhellend.« Kate verschränkte die Arme vor der Brust; am liebsten hätte sie den Doktor geprügelt, damit er weitere Informationen preisgab. »Aber geht es ihm auch gut?«
Campbell lehnte sich ans Treppengeländer, woraufhin Grady zusammenzuckte, da das Holz knarrte. Er ging auf den alten Mann zu – wohl um ihn vor einem plötzlichen Sturz zu bewahren, wie Kate vermutete. Ich würde ihn fallen lassen, sagte sie sich. Vielleicht brächte es ihn zur Besinnung.
Campbell schwitzte stark und tupfte sich die Stirn mit einem schmutzigen Taschentuch aus Leinen ab, falls er nicht gerade wild in der Luft gestikulierte, was für Kate dem Versuch geschuldet war, längst vergessene medizinische Fachausdrücke abzurufen.
»Er spricht nicht, obwohl er bei Bewusstsein ist, aber, wenn ich das so sagen darf, noch nicht bei klarem Verstand. Indes Sie glauben mögen, er mache Fortschritte, ist womöglich genau das Gegenteil der Fall.«
»Aber er ist wach geworden«, bemerkte Grady. »Das allein muss nach so langer Zeit doch etwas zu sagen haben, nicht wahr?«
Campbell zuckte mit den Schultern. »Kennen Sie nicht die Redewendung, gerade aufgewacht, um den eigenen Tod nicht zu verpassen?«
Kate schloss die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen, ehe sie vortrat. Grady streckte sich noch mehr, um sie zurückzuhalten, doch sie hatte den keuchenden Doktor fest im Blick. Der schien nicht zu bemerken, dass der Derwisch mit dem goldbraunen Haar auf ihn losging.
»Gibt es bei Ihnen denn nie gute Neuigkeiten, oder steckt in Ihnen selbst so wenig Leben, dass Sie sich daran erfreuen, anderen Elendsbotschaften zu übermitteln, Sie inkompetenter Kerl?«
Campbell schaute sie an. »Junge Dame …« Er unterbrach sich, um kräftig in sein Tuch zu husten. »Glauben Sie mir, ich würde zu gern verkünden, Ihr lieber Vater werde binnen weniger Tage aufstehen und unter die Leute gehen, doch nichts widerlegt meinen Verdacht, dass er langsam unter der Bürde einer geheimnisvollen und schweren Krankheit zusammenbricht. Die Ausdauer, mit der er sich ans Leben klammert, ist an sich schon bemerkenswert.« Er fuhr mit einer Hand über seinen Mund, bevor er weitersprach; dabei glänzte immer noch Speichel auf seinen Lippen. »Ich habe keine Mühen gescheut, um sein Leiden zu ergründen. Dazu beriet ich mich mit Londoner Kollegen, die gewisse Theorien – Doktor Joyce zog sogar ein Tropenvirus in Betracht! – aufgestellt haben. Doch keine davon kam der Ursache der Krankheit nahe. Ganz zu schweigen davon, dass wir ihr nicht einmal einen Namen geben können. Deshalb sollten Sie begreifen, wie schwierig es für mich ist, ein Gebrechen zu behandeln, das ich überhaupt nicht kenne, genauso wie ich Ihnen kaum Hoffnung schenken kann, so sehr Sie sich diese auch erbitten. Täte ich es dennoch, würden Sie später, wenn Sie die Wirklichkeit einholt, umso tiefer ins Leid fallen. Ich bedauere es zutiefst, doch für mich schickt es sich nicht, die Kinder eines sterbenden Mannes zu betrügen.«
»Wenn Sie seine Krankheit nicht einordnen können, mit welchem Recht behaupten Sie dann, er werde sterben?«
Campbell grunzte. »Sehen Sie ihn bloß an, um Himmels willen!«
Kate setzte sich in Bewegung, bevor sie sich dessen richtig bewusst war, doch genauso schnell war sie wie gelähmt, als Grady ihre Schulter festhielt. Ein Händedruck verlängerte ihre Geduld, wenngleich nur ein wenig. Campbell fasste sich an den Hals, als befürchte er, sie beiße einen Fetzen heraus.
»Er stirbt nicht!«, beharrte sie. »Sie schließen allein deshalb darauf, weil der Alkohol Ihr Urteilsvermögen längst zunichtegemacht hat. Für Sie gibt es keine andere Diagnose als die erstbeste, denn die erspart Ihnen die Mühen, nach einer Heilmethode zu suchen.«
Campbell war entrüstet. Er drehte sich zu Grady um. »Lassen Sie zu, dass dieses … Kind … so mit mir spricht? Wäre ich Sie, würde ich der Göre einen Satz heißer Ohren verpassen.«
»Dann kann die junge Lady von Glück reden, dass Sie nicht ich sind«, schoss Grady zurück.
»Und bezeichnen Sie mich nicht als Kind«, fügte Kate an, die sich von Grady bestätigt fühlte.
Campbell wurde starr vor Empörung. »Lady? Nun, dann ist klar, wer in diesem
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