Herr der Moore
andere Monster, nach deren Vorbild sich die Kinder im Saal verkleidet hatten. Den eigentümlichen Springer, der ihnen heute Abend gefolgt war – es mochten gar mehrere gewesen sein –, konnte er hingegen nicht einfach so in Abrede stellen. Die Bedrohung war körperlich spürbar und schien, was noch schlimmer anmutete, allein ihm und den Kindern zu gelten. Wie er zu diesem Schluss kam, wusste er nicht; als starkes Bauchgefühl konnte er die lähmende Furcht nicht abtun, die sich ungehindert in ihm auswuchs. Es musste sich um etwas anderes handeln, aber spielte das überhaupt eine Rolle? Hätte eine schlüssigere Erklärung beziehungsweise Ursachenforschung sie sicherer gemacht?
Nein.
Alles, woran er denken konnte, waren die Kratzspuren an Royles Sattel und das, was der Angreifer dem Reiter angetan hatte.
»Daran gibt es nichts auszusetzen, es ist genauso gut wie deines.« Kate hatte die Hände in die Hüften gestemmt und vor Zorn im Gesicht die gleiche Farbe angenommen, die ihr Kostüm hatte. »Du siehst es doch nicht einmal, um Himmels willen; woher willst du es also wissen?« Sie setzte ihre Haube aus Samt auf.
Mrs. Fletcher hatte ihre Verkleidung aus zwei alten Vorhängen genäht, und Grady kam nicht umhin, ihr Talent zu bewundern. Der Umhang mit roter Kopfbedeckung sah besser aus als alles, was man in den Geschäften angeboten bekam.
»Weil es nicht unheimlich ist. An Halloween musst du etwas anziehen, das die Leute erschreckt. Das sagte ich dir schon letztes Jahr, als du als Schwan gegangen bist!« Neil trug ein schwarzes Tuch, aus dem die Haushälterin ebenfalls einen Umhang gefertigt hatte, und ein Anzughemd seines Vaters, dessen Ärmel hochgekrempelt und festgesteckt worden waren, damit es besser passte. Dennoch war es dem drahtigen Jungen zu groß, wiewohl das Gesamtbild stimmte. Eingedenk der schwarzen Hose, eines übergroßen Hutes und mit dem Buttermesser, das er mit teuflisch verschmitzter Miene zückte, wirkte er angemessen schaurig. Obendrein hatte Grady ihm mit Schuhwachs Augenringe gemalt; Mrs. Fletchers Mehl dagegen hatte der Regen so gut wie völlig aus seinem Gesicht gewaschen. Auch so sah er aber noch wie auf den Bildern aus dem London Advertiser aus , die Grady Kate gezeigt hatte – krude Zeichnungen des gefürchteten Mörders Jack the Ripper.
»Ach, mir ist egal, was du denkst. Ich lasse mich nicht von einem blinden Griesgram wie dir kritisieren.«
Nach diesen Worten reichte es Grady. Er zog Kate grober zur Seite, als er es eigentlich wollte, was ihr jedoch entsprechend vermittelte, dass sie zu weit gegangen war. Sie funkelte ihn böse an und entzog sich wieder.
»So etwas will ich nicht wieder hören«, drohte er in bemessenem Ton, bevor er sich an Neil wandte. »Und Sie lassen Ihre Schwester gefälligst in Frieden. Ihre beiden Kostüme stehen heute Abend außer Konkurrenz. Weshalb Sie sich gegenseitig das Leben schwer machen, ist mir ein Rätsel. Irgendwann genügt es, verstanden?«
Die Geschwister nickten.
»Gut, jetzt passen Sie auf, ich werde Sie eine Weile allein lassen. Bleiben Sie bitte im Saal, wo jeder Sie sehen kann. Ich will unter keinen Umständen , dass Sie nach draußen gehen.«
Kate stutzte. »Weshalb? Wo müssen Sie hin?«
»Greg Fowler erwartet mich unten im Fox. Er möchte etwas mit mir besprechen.«
»Trinken«, bemerkte sie angewidert.
»Was will er von Ihnen?« Neil dachte wohl, die Angelegenheit sei gefährlich.
»Tja, das erfahre ich erst, wenn ich dort bin. Jetzt aber versprechen Sie mir, dass Sie drinnen bleiben.«
»Werden wir«, entgegnete Kate in einem Ton, der darauf hindeutete, dass sie zu tun gedachte, was ihr vorschwebte, und sich keine Vorschriften machen ließ. Sie war wohlerzogen und verständig, hatte aber auch eine auffällig trotzige Ader, die Grady noch mehr Sorgen bereitete.
Er fuhr sich durchs Haar. »Das ist sehr wichtig. Ich erteile selten Befehle, aber jetzt muss es sein, und ich werde nicht aufbrechen, bis Sie Stein und Bein schwören, zu gehorchen.«
Neil trat vor. Er sah konzentriert aus. »Sie fürchten sich. Man hört es an Ihrer Stimme.«
Grady lächelte matt. »Liegt an der Kälte, mein Junge. Warten Sie, bis Sie mein Alter erreichen, dann werden Sie es begreifen.«
Neil aber ließ sich nichts vorgaukeln. Grady verfluchte die Auffassungsgabe des Knaben insgeheim. Sie mussten ihm Vertrauen entgegenbringen, doch der beklommene Tonfall stellte ihn bloß. Sie mochten noch neugieriger werden und anfangen, sich ihm zu
Weitere Kostenlose Bücher