Herr der Moore
Mansfield den nächsten Drink reichte. »Wir müssen uns beeilen, Sir. Neil braucht uns.«
»Ja, ja. Verzeihung, ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Schätze, ich habe mich verrannt und meinen Gedanken mehr Bedeutung zugemessen, als es ansonsten der Fall gewesen wäre. Bitte vielmals um Entschuldigung.«
Erneut rieb sich der Diener an Mansfields beiläufigem Ton. »Nicht der Rede wert.«
»Doch, Grady, es ist durchaus angebracht, aber Zeit, mich für alles zu entschuldigen, haben wir nicht.«
»Was meinen Sie nun damit?«
»Ich fürchte, meine Feigheit hat uns alle dem Untergang geweiht.«
Grady schwieg. Nach einer solchen Bemerkung konnte er nur auf ausführlichere Erklärungen warten. Es dauerte nicht lange.
»Ich glaube, diese Wesen sind krank. Sie tragen etwas Fürchterliches, eine Art Seuche, in sich, die sich im Menschen einnistet und ihn verändert.«
Grady stellte sein Glas auf den Boden. »Wie stellen Sie sich das vor … verändert?«
»Ich bin nicht sicher, aber wahrscheinlich verwandelt man sich in eines von ihnen, entwickelt sich zurück oder besser gesagt weiter , und zwar zu einem blutrünstigen Monster.«
»Menschen werden nicht zu Tieren.«
»Das stelle ich nicht in Abrede, mein Freund, aber erzählen Sie mir, woher diese Geschöpfe kommen? Dass sie dort draußen umgehen, muss ich Ihnen nicht sagen; daran besteht kein Zweifel, aber was hat sie erschaffen? Würden sie seit jeher im Moor leben, hätten wir gewiss bereits vor unserer folgenschweren Suche von ihnen gehört.«
»Ich tappe völlig im Dunkeln. Vielleicht ist etwas aus dem Zoo in London entwischt.«
Mansfield lächelte. »Wie lange machen Sie sich schon selbst mit diesem Gedanken froh?«
»Seit einer Weile«, gestand Grady mit einem Seufzen.
»Während ich bettlägerig war, hatte ich viele Erscheinungen, die ich nahezu alle am liebsten als Illusionen abtäte. Aber wie dem auch sei, im Zuge meines Leidens wurde ich zur bloßen Figur auf einem Spielbrett und war der Gnade widerstreitender Kräfte unterworfen. Auf einer Seite …« Er öffnete die rechte Hand, »… sah ich Helen, die meinte, ich müsse sterben, um die Kinder zu retten.« Er nahm sein Glas in die freie Hand und beschrieb die gleiche Geste, wie zuvor mit der linken. »Die Visionen auf der anderen zeigten mir, was aus mir wird, wenn ich weiterlebe. Sylvia sah ich, wie sie mir in Erinnerung geblieben war, doch das Bild fiel in sich zusammen, und das wahre Gesicht meiner Geliebten kam zum Vorschein, das Unaussprechliche hinter der makellosen Maske.« Sein Kopf wackelte leicht hin und her. »Ich glaube, dadurch wurde ich infiziert, Grady. Sylvia Callow war eine von ihnen … um genau zu sein … ihre Mutter, glaube ich.«
20
»Wer sind Sie?«
»Mein Name lautet Stephen.«
»Wohin bringen Sie mich?« Neil musste gegen den Regen anschreien, der so kräftig in sein Gesicht spritzte, dass seine Haut taub wurde. Seit er zu sich gekommen war, hatte er nur herausgefunden, dass er Handfesseln trug und auf dem Rücken eines Pferdes saß, das über unebenes Land trabte. Sein Kopf wummerte von dem Schlag, den man ihm versetzt hatte. Als das Tier eine Anhöhe nahm, hörte er den Mann ein einzelnes Wort sagen: »Daheim.«
»Weshalb tun Sie das?«, wollte Neil wissen. Er fror so arg, dass er dachte, er überlebe es nicht. »Ich habe Ihnen nichts getan.«
»Ich habe dir auch nichts vorgeworfen, oder?«
»Aber warum dann?«
Darauf erhielt er keine Antwort, und je länger der Ritt noch dauerte, desto ängstlicher wurde er. Das Unwetter brauste anhaltend um ihn herum, und die Tropfen stachen wie Nadeln auf seiner Haut. Er wollte sich niederlegen, im nassen Gras zusammenrollen und schlafen, so müde war er. Die Ungewissheit jedoch sorgte dafür, dass er hellhörig war und wach blieb: Was hatte dieser Stephen mit ihm vor?
»Man wird mich suchen«, ließ er seinen Entführer wissen. »Bestimmt hetzen sie schon mit den Hunden hinter uns her.«
»Wenn ich dir eines versichern kann, Junge, dann dass niemand uns nachstellt.«
Neil weigerte sich, dies zu glauben. Grady musste sich auf die Suche begeben haben, gleich nachdem er erfahren hatte, was passiert war. Es sei denn …
Es sei denn, er saß immer noch im Fox & Mare und betrank sich mit Freunden.
Kate hätte ihn aber doch längst aufgescheucht, oder?
Er erinnerte sich daran, wie er vor dem Bürgerhaus im Regen gewartet hatte. Bis sie ihm gefolgt war, hatte es gedauert; obwohl nichts und niemand sie aufgehalten
Weitere Kostenlose Bücher