Herr der Träume
Universität, und er arbeitete an einer Dissertation über die Entwicklung des Bewußtseins. Im vergangenen Sommer hielt er es für notwendig, den Geist eines Affen zu untersuchen – ich nehme an, um ihn mit dem seinen zu vergleichen. Jedenfalls verschaffte er sich illegal Zugang zu einem ONT&R und dem Geist unseres haarigen Vetters. Man fand nicht heraus, wie weit es ihm gelang, das Tier der Stimulanzien-Bank auszusetzen, aber man nimmt an, daß solche Reize, die nicht direkt zwischen Mensch und Affe überführbar sind – Verkehrslärm und ähnliche –, das Tier erschreckt haben. Pierre befindet sich immer noch in einer Gummizelle, und alle seine Reaktionen sind die eines erschreckten Affen.
Er führte also seine Dissertation nicht zu Ende, mag jedoch für einen anderen ein interessantes Studienobjekt abgeben.«
Render schüttelte den Kopf.
»Eine ungewöhnliche Geschichte«, sagte er leise, »aber mit so etwas Dramatischem kann ich nicht aufwarten. Ich habe eine außergewöhnlich stabile Persönlichkeit gefunden, eine Psychiaterin übrigens, die sich bereits mit gewöhnlicher Analyse befaßt hat. Sie möchte auf Neuropartizipation übergehen, aber die Furcht vor einem Seh-Trauma hat sie davon abgehalten. Ich habe sie allmählich dem vollen Bereich der visuellen Phänomene ausgesetzt. Wenn ich fertig bin, müßte sie sich vollständig an das Sehen gewöhnt haben, so daß sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Therapie zuwenden kann, ohne vom Sehen geblendet zu werden, wenn man es so ausdrücken kann. Wir haben bereits vier Sitzungen hinter uns.«
»Und?«
»Es funktioniert tadellos.«
»Bist du dir dessen sicher?«
»Ja, so sicher man sich bei solchen Dingen sein kann.«
»Mm, hm«, sagte Bartelmetz. »Sag mir, hältst du sie für außergewöhnlich willensstark? Ich meine, hat sie zum Beispiel versucht, die Kontrolle über das Phantasiegeschehen zu übernehmen, und ist es ihr jemals gelungen?«
»Nein.«
»Du lügst«, sagte er ruhig.
Render kramte eine Zigarette hervor. Nachdem er sie angesteckt hatte, lächelte er.
»Das Alter hat dein Wahrnehmungsvermögen nicht beeinträchtigt. Vielleicht kann ich mich selbst hintergehen, dich aber niemals. – Ja, sie ist tatsächlich schwer unter Kontrolle zu halten. Sie begnügt sich nicht mit dem Sehen. Sie möchte bereits selbst Dinge schaffen. Es ist ziemlich verständlich – sowohl für sie wie auch für mich –, aber bewußtes Anerkennen und emotionelle Billigung gehen nicht immer Hand in Hand. Sie wurde bei verschiedenen Anlässen dominant, aber es gelang mir stets, fast augenblicklich die Kontrolle wieder zu übernehmen. Schließlich bin ich Herr über das Schaltpult.«
»Hm«, sagte Bartelmetz. »Kennst du Shankaras Katechismus, einen buddhistischen Text?«
»Ich denke nicht.«
»Dann werde ich dir darüber einen Vortrag halten. Er postuliert ein wahres Ego und ein falsches Ego. Das wahre Ego ist der Teil des Menschen, der unsterblich ist und ins Nirwana eingehen soll: die Seele, wenn man so will. Gut. Das falsche Ego andererseits ist der normale Verstand mit den Illusionen, das Bewußtsein – deines, meines und aller anderen, mit denen wir je beruflich zu tun hatten. Gut? Nun, und die Substanz, aus dem das falsche Ego besteht, nennen sie skandhas. Zu diesen gehören die Gefühle, die Wahrnehmungen, die Neigungen, das Bewußtsein selbst und sogar die physische Form. Sehr unwissenschaftlich. Ja. Sie sind aber nicht dasselbe wie Neurosen oder eine von Ibsens Lebenslügen oder Halluzinationen, obwohl sie alle falsch sind, weil Teile von etwas Falschem.
Jede der fünf skandhas ist Teil der Exzentrizität, die wir Identität nennen. Darüber befinden sich dann die Neurosen und alle anderen Ünbehaglichkeiten, denen wir unseren Lebensunterhalt verdanken. Okay? Ich halte dir diesen Vortrag, weil ich einen dramatischen Ausdruck für das brauche, was ich dir sagen will, denn dieses ist auch dramatisch. Stelle dir vor, die skandhas befinden sich auf dem Grund eines Teiches. Die Neurosen sind die kleinen Wellen auf der Wasseroberfläche, und das ›wahre Ego‹ – sofern es eines gibt – ist tief unter dem Sand des Grundes vergraben. So. Die Wellen erfüllen die Zwischenwelt zwischen dem Objekt und dem Subjekt. Die skandhas sind ein Teil des Subjekts – fundamental, einzigartig, der Stoff seines Seins. – Bist du mir gefolgt?«
»Mit vielen Vorbehalten.«
»Gut. Nachdem ich nun meinen Begriff etwas definiert habe, will ich ihn anwenden. Du spielst mit
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