Herr der Welt
dem Stand der Sonne, wenige Grade über dem Ho-
rizont, erkannte ich, daß wir nach Süden steuerten. War der
Kurs seit der Abfahrt aus dem Kesseltal kein anderer gewe-
sen, dann mußte das Meer, das sich unter unseren Füßen
ausbreitete, der Golf von Mexiko sein. Der Tag versprach
— 269 —
warm zu werden; im Westen stiegen langsam dicke, blei-
farbene Wolken auf. Diese Vorzeichen entgingen auch Ro-
bur nicht, als er gegen 8 Uhr aufs Verdeck heraufkam, um
Turner abzulösen. Vielleicht erinnerte er sich dabei an jene
Wasserhose, die den ›Albatros‹ zu zerstören gedroht hatte,
und an den furchtbaren Wirbelsturm im antarktischen Ge-
biet, aus dem er nur wie durch ein Wunder heil und gesund
hervorgegangen war.
Was freilich in einem ähnlichen Fall das frühere Luft-
schiff nicht hätte tun können, das mußte dem jetzigen Avia-
tor ein leichtes sein. Er brauchte sich ja nur aus den oberen
Luftschichten, wo der Kampf der Elemente wüten würde,
hinabzusenken, also nur auf die Oberfläche des Meeres hi-
nunterzugehen, und wenn hier ein gar zu heftiger Wogen-
gang herrschte, dann wußte er ja in der stillen Tiefe dage-
gen Schutz zu finden. Irgendwelchen Anzeichen nach nahm
Robur – der gewiß die Eigenschaften eines »weather-wise«
(Wetterkundigen) besaß – aber wohl an, daß das Unwetter,
wenn der Himmel auch gewitterdrohend aussah, am heuti-
gen Tag nicht zum Ausbruch kommen würde. Er hielt also
seine bisherige Richtung ein, und auch als wir am Nachmit-
tag aufs Wasser hinuntergingen, geschah das gewiß nicht
aus Besorgnis vor schlechtem Wetter. Die ›Terror‹ ist ein
Seevogel, ein Fregattvogel oder ein Alkyon (Taucherkönig),
der auf den Wellen ausruhen kann, nur mit dem Unter-
schied, daß bezüglich ihrer metallischen, von unerschöpf-
licher Elektrizität bewegten Organe von Ermüdung keine
Rede sein kann.
— 270 —
Die grenzenlose Wasserfläche war übrigens völlig öde
und leer. Selbst am äußersten Horizont zeigte sich weder
ein Segel noch eine Rauchsäule. Der Aviator konnte also
bei seinem Flug durch die Luft von niemandem beobachtet
worden sein.
Am Nachmittag ereignete sich nichts Ungewöhnliches.
Die ›Terror‹ lief nur mit mittlerer Geschwindigkeit. Welche
Pläne der Kapitän haben mochte, das konnte ich unmöglich
erraten. Bei der weiteren Einhaltung der jetzigen Richtung
mußte er auf die eine oder die andere der Großen Antillen
treffen und auf der entgegengesetzten Seite des Golfs nach
der Küste von Venezuela oder Kolumbien kommen. In der
nächsten Nacht stieg das Luftschiff vielleicht aber wieder
auf, um über die große Landenge von Guatemala und Nica-
ragua hinwegzuschweben und endlich im Pazifik die Insel
X zu erreichen.
Als der Abend herankam, verbarg sich die Sonne hinter
einem blutroten Horizont. Das Meer leuchtete rings um die
›Terror‹ auf, die bei ihrer Fahrt eine Wolke von Funken auf-
zuwirbeln schien. Da mußte man wohl – wie die Matrosen
sagen – ein »Hundewetter« erwarten.
Das war sicherlich auch Roburs Ansicht. Statt auf dem
Verdeck bleiben zu dürfen, mußte ich hinunter in meine
Kabine, deren Lukendeckel sich über mir schloß.
Einige Augenblicke darauf erkannte ich aus dem Ge-
räusch, das an Bord entstand, daß der Apparat jetzt unter-
tauchen sollte. Wirklich schwamm er 5 Minuten später in
dem schon in mäßiger Tiefe ganz ruhigen Wasser.
— 271 —
Ebenso durch die Ermüdung des Körpers wie durch
meine stete Besorgnis erschöpft, versank ich bald in tie-
fen Schlaf . . . diesmal in einen natürlichen Schlaf, der nicht
durch eine stark betäubende Arznei herbeigeführt war.
Bei meinem Erwachen – nach wieviel Stunden, konnte
ich nicht sagen – war die ›Terror‹ noch nicht an die Ober-
fläche des Meeres zurückgekehrt.
Das sollte jedoch sehr bald geschehen. Das Licht drang
durch die kleinen Pforten wieder ungehindert ein, und
gleichzeitig machten sich, infolge des sehr starken Wellen-
gangs, Stampf- und Schlingerbewegungen bemerkbar.
Ich konnte bald wieder neben der Luke Platz nehmen,
und mein erster Blick richtete sich natürlich auf den Ho-
rizont.
Von Nordwesten stieg jetzt ein Gewitter auf; schwere
Wolken, zwischen denen blendende Blitze hin und her
zuckten, wälzten sich wie kämpfend empor. Schon hörte
man aus der Ferne das Rollen des Donners, der durch das
Echo im Luftmeer einen lang anhaltenden Widerhall fand.
Ich war verwundert – nein, mehr als verwundert
Weitere Kostenlose Bücher