Herr der zwei Welten
Muskeln neu zu trainieren. Vielleicht war es ja tatsächlich so. TsiTsi war überglücklich. Keine Sekunde ließ sie ihren wild gewordenen Sprössling aus den Augen. Aber TsiTsi war nicht die Einzige, die Karon beobachtete. Auch Bernhard nahm kein Auge mehr von dem Kind, das er für sich heimlich adoptiert hatte. Dagegen war es Bernhard, der von Dervit beobachtet wurde. Dervit hatte sich wohl vorgenommen, diesem Mann, der das Leben seines Sohnes gerettet hatte, jeden Wunsch allein von den Augen abzulesen. Julie ihrerseits beobachtete alle zusammen und amüsierte sich köstlich darüber. Bernhard schien Dervits Gehabe nun überhaupt nicht Recht zu sein. Ohne allzu große Fantasie konnte man Bernhard ansehen, wie sehr ihn Dervits Fürsorge störte. Er war kein Mensch, der gerne im Rampenlicht stand. Julie bewunderte ihn. Aber sie konnte Dervit verstehen. Schließlich hatte sein Sohn allein Bernhards Kletterkünsten und seinem Mut, diese auch einzusetzen, zu verdanken. Alle anderen hatten doch bereits aufgegeben, als sie die Wunderblume in solch schwindelerregender Höhe entdeckt hatten. Trotzdem gab Julie Dervit ein Zeichen, dass sie sich mit ihm unterhalten wollte. Sobald Dervits Aufmerksamkeit ihr galt, nutzte Bernhard die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen.
„Lass es.“ sagte Julie zu Dervit.“Weißt du, Bernhard ist es peinlich, dass du ihn so umsorgst. Ich weiß, er hat Karon das Leben gerettet. Trotzdem. Manche Menschen von der Erde sind so.“
„Aber …“ fuhr Dervit aufgebracht dazwischen. Julie hob beschwichtigend ihre Hand.
„Schau Dervit, wie schnell Bernhard sich von der Gruppe entfernt hat. Glaube mir, er weiß, wie sehr du ihm dankbar bist. Aber er möchte diese hohe Beachtung nicht haben. Verstehst du?“
Dervit kaute auf seiner Unterlippe, während er wieder sein Kinn malträtierte.
„Mh“ meinte er dann. „Ich mag Bernhard sehr, ich werde nie vergessen, was er für uns getan hat. Aber wenn es ihn stört, dass ich ihn auch so behandle, na ja, dann werde ich es natürlich sein lassen.“
Dervit ließ seinen Blick über ihren Rastplatz schweifen, vermutlich versuchte er herauszufinden, wohin Bernhard sich verzogen hatte. Dann entdeckte er ihn, wie er abseits der Gruppe, neben einem Strauch saß. Ganz allein.
„Ich will nicht, dass er sich von der Gruppe zurückzieht. Danke Julie, dass du es mir gesagt hast! Ich hätte es vermutlich nicht von allein bemerkt.“ Dervit schüttelte den Kopf. „Ihr Erdmenschen seid manchmal wirklich schwer zu verstehen.“
Aber dann grinste er Julie doch an und gemeinsam gesellten sie sich wieder zu den anderen. Julie beobachtete wieder Karon, wie er noch immer im kühlen Wasser spielte. Es war einfach zu schön, Karon wieder gesund und munter so herumtollen zu sehen! Niemand achtete auf die restliche Umgebung; alle Augen waren nur auf den Jungen gerichtet. Da erklang ein jäher Aufschrei! TsiTsi! Erschrocken drehte sich jeder nach ihr um. TsiTsi stand, nicht weit von der Badestelle ihres Sohnes, vor einem kleinen Strauchwerk, dessen Wurzeln zum Teil im Wasser hafteten. Ihre Arme hatte sie abwehrend erhoben und sie schrie:
„Neiiiin! Geh weg! – Bitte neiiiiin!“
Die Blicke der Gruppe folgten erstarrt ihrem ausgestreckten Arm. Etwas ringelte sich direkt auf die kleine Frau zu. Julie wollte zu ihr laufen, aber ihre Muskeln gehorchten nicht. Sie konnte nichts anderes tun, als ihre Hand vor den Mund zu schlagen und dem Schauspiel bewegungslos entgegen zu starren. Angst und Ekel erfüllten sie und machten weiteres Handeln unmöglich. Erst die schrillen Schreie Karons holten sie aus ihrer Erstarrung.
„Daddy! Da- sieh doch! Hiiilfeee! Mum! Dad!“
Seine Stimme überschlug sich vor Furcht.
Dervit hatte seine Erstarrung als erster überwunden und rannte los, um seiner Frau zu helfen. Jetzt konnten es alle sehen! Das, was sich da unaufhaltsam TsiTsi näherte, war eine riesige Schlange! Aber sie besaß keine festen Konturen. Keine Umrisse. Sie bestand nur aus waberndem Nebel. Eine riesige Nebelschlange! TsiTsi stand dort, wie ein hypnotisiertes Wild. Die Nebelschlange näherte sich ihr stetig!
„Lauf doch weg! Lauf TsiTsi, lauf doch!“ schrie Dervit aus vollem Hals. Doch sein Rufen schien die kleine Frau gar nicht zu erreichen. Jedenfalls reagierte sie in keiner Weise. Die Schlange würde gleich bei ihr sein! Julie war auch losgelaufen. Doch nun blieb sie wieder wie angewurzelt stehen.
„Neiiin!“ Dervit schrie verzweifelt auf. Was folgte war eine
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