Herr des Chaos
beiden Seiten eine enge Spirale eingraviert hatte und die man durch einen Strang aus Geist aktivierte, der einzigen der Fünf Mächte, die man im Schlaf lenken konnte. Überall, aber allerdings nicht hier. Die anderen drei hatten kleine Fibeln dabei, die einst aus Bernstein gefertigt worden waren. In jede hatte ihr Schöpfer eine schlafende Frau eingearbeitet. Und hätte Elayne auch alle sechs Ter'Angreal vor sich liegen, sie wäre trotzdem nicht in der Lage, die beiden Originale wiederzuerkennen. Diese Kopien waren ihr sehr gut gelungen. Aber natürlich waren es immer noch Nachahmungen.
Als die Aes Sedai die Lehmstraße nebeneinander herunterschritten, hörte sie noch das Ende ihrer Unterhaltung, wenn sie auch nicht viel damit anfangen konnte, »...werden unsere Wahl mißachten, Carlinya«, sagte Sheriam mit dem Flammenhaar gerade, »aber sie werden ohnehin jede Wahl mißachten, die wir treffen. Wir brauchen deshalb unseren Beschluß nicht über den Haufen zu werfen. Es ist überflüssig, Euch noch einmal die Gründe aufzuzählen.«
Morvrin, eine kräftige Braune Schwester mit graugesprenkeltem Haar, schnaubte. »Nachdem wir uns mit dem Saal solche Mühe gegeben haben, hätten wir Schwierigkeiten, wollten wir sie noch einmal umstimmen.«
»Solange jeder Herrscher uns ernst nimmt, kann uns das egal sein«, sagte Myrelle hitzig. Die jüngste der sechs, noch gar nicht so lange zur Aes Sedai erhoben, klang entschieden gereizt.
»Welcher Herrscher würde es denn wagen, uns nicht ernst zu nehmen?« fragte Anaiya wie eine Frau, die fragt, welches Kind es wohl wagen mochte, Schmutz auf ihre Teppiche zu schleppen. »In jedem Fall weiß sowieso kein König oder Königin genug darüber, was unter uns Aes Sedai vorgeht, um die Lage zu durchschauen. Uns brauchen nur die Meinungen der Schwestern zu interessieren, aber nicht ihre.«
»Was mir Kopfzerbrechen bereitet«, erwiderte Carlinya kühl, »ist folgendes: Wenn sie sich leicht von uns führen läßt, dann läßt sie sich vielleicht auch leicht von anderen führen.« Die blasse Weiße mit den fast kohlrabenschwarzen Augen war immer kühl, manche würden auch sagen, eisig.
Worüber sie da auch sprechen mochten, war es auf jeden Fall nichts, was sie vor Elayne oder den anderen austragen wollten. So schwiegen sie, kurz bevor sie die anderen erreichten.
Siuan und Leone reagierten auf die Neuankömmlinge, indem sie einander abrupt den Rücken zuwandten, als hätten sie sich gestritten und seien nur durch die Ankunft der Aes Sedai unterbrochen worden. Was Elayne betraf, überprüfte sie schnell noch ihre Kleidung. Es war das richtige weiße Kleid mit dem farbigen Saum. Sie war selbst nicht ganz glücklich darüber, daß sie ohne Nachdenken im richtigen Kleid erschienen war. Sie hätte wetten können, daß Nynaeve ihre Kleidung nach der Ankunft erst einmal abgeändert hatte. Aber Nynaeve war halt auch viel unerschrockener als sie und kämpfte ständig gegen Beschränkungen an, die sie bereits akzeptiert hatte. Wie konnte sie nur jemals Andor regieren? Falls ihre Mutter tot war. Falls.
Sheriam, ein wenig mollig und mit hohen Backenknochen, richtete ihre schrägstehenden grünen Augen auf Siuan und Leane. Einen Augenblick lang trug sie eine Stola mit blauen Fransen. »Wenn Ihr zwei nicht miteinander auskommen könnt, schwöre ich, daß ich Euch beide zu Tiana schicke.« Es klang, als habe sie das schon oft gesagt und stünde gar nicht mehr dahinter.
»Ihr habt doch lange genug zusammengearbeitet«, sagte Beonin in ihrem auffallenden Taraboner Dialekt. Sie war eine hübsche Graue, hatte sich das honigfarbene Haar zu einer Unmenge dünner Zöpfe geflochten, und ihre blaugrauen Augen blickten ständig überrascht drein. Dabei konnte fast nichts Beonin wirklich überraschen. Sie würde auch nicht glauben, daß die Sonne am Morgen aufgehe, wenn sie sich nicht selbst davon überzeugte, aber falls sie eines Morgens doch nicht auftauchte, würde Beonin nicht einmal mit der Wimper zucken, vermutete Elayne. Das würde lediglich bestätigen, daß sie recht daran getan hatte, Beweise zu fordern. »Ihr könnt und müßt wieder zusammenarbeiten.«
Bei Beonin klang das auch, als habe sie es so oft gesagt, daß es jetzt schon fast automatisch und ohne zu denken herauskam. Alle Aes Sedai hatten sich längst an Siuan und Leane gewöhnt. Sie hatten angefangen, die beiden wie zwei Mädchen zu behandeln, die mit dem Zanken nicht aufhören konnten. Aes Sedai hatten sowieso eine Neigung dazu, jede
Weitere Kostenlose Bücher