Herr des Chaos
dem sie die Aes Sedai bedachte. Elayne glaubte nicht, daß sie bisher den Kontakt mit ihren Agenten in den Grenzlanden wieder aufgenommen hatte. Der Weg nach Salidar war eben sehr weit.
»Ich würde mich wohler fühlen, wenn man von Tarabon dasselbe behaupten könnte.« Das Blatt in Beonins Hand wurde länger und breiter. Sie blickte darauf nieder, schnaubte, und warf es weg.
»Die Augen-und-Ohren in Tarabon, sie schweigen immer noch. Allesamt. Die einzige Nachricht aus Tarabon, die sie bekommen hat, besteht aus Gerüchten von Amadicia her, daß Aes Sedai in den Krieg verwickelt seien.« Sie schüttelte den Kopf über den absurden Vorgang, solche Gerüchte überhaupt zu Papier zu bringen. Aes Sedai ließen sich nicht in Bürgerkriege verwickeln. Jedenfalls nicht so offensichtlich, daß man es bemerken würde. »Und wie es scheint, liegen auch aus Arad Doman kaum mehr als eine Handvoll ziemlich verwirrender Berichte vor.«
»Im Falle Tarabons werden wir selbst bald genug Bescheid wissen«, sagte Sheriam beruhigend. »Nur noch ein paar Wochen.«
Die Suche ging noch stundenlang weiter. Die Dokumente wurden nie knapp, und das lackierte Kästchen war nie leer. Manchmal nahm sogar der Inhalt zu, wenn irgendein Schriftstück entnommen wurde. Natürlich blieben nur die kürzesten Schriftstücke lang genug stabil, um sie ganz lesen zu können, aber gelegentlich fanden sie im Kasten einen Brief oder einen Bericht wieder, den sie schon einmal überflogen hatten. Lange Zeitspannen über herrschte nur Schweigen, aber dazwischen rief das eine oder andere Schriftstück doch Kommentare hervor, und ein paarmal diskutierten die Aes Sedai sogar heftig. Siuan begann aus Langeweile mit einem Fadenspiel, und schien sich dabei so auf ihre Fingerfertigkeit zu konzentrieren, daß sie augenscheinlich auf nichts anderes mehr achtete. Elayne wünschte, sie könne das auch, oder noch besser, sie habe ein Buch zum Lesen in Händen - prompt erschien ein Buch auf dem Boden zu ihren Füßen, Die Reisen des Jain Fernstreicher, bevor sie es schnell wieder verschwinden ließ - aber man ließ den Frauen, die sowieso keine Aes Sedai waren, mehr Freiheiten als solchen, die zu Aes Sedai ausgebildet wurden. Trotzdem, beim Zuhören erfuhr sie auch einige interessante Dinge.
Eine Einmischung der Aes Sedai in Tarabon war nicht das einzige Gerücht dieser Art, das seinen Weg auf Elaidas Schreibtisch gefunden hatte. So schien den Gerüchten zufolge der Rückzug der Weißmäntel auf Befehl Pedron Nialls alle möglichen Gründe zu haben, von der Absicht, den Thron Amadicias zu erringen - was bestimmt nicht mehr nötig war - bis hin zu der Vermutung, er wolle die Bürgerkriege und die Anarchie in Tarabon und Arad Doman unterdrücken und Rand unterstützen! Elayne würde das erst glauben, wenn die Sonne im Westen aufging. Es gab Berichte über eigenartige Vorkommnisse in Illian und Cairhien und vielleicht noch in anderen Gebieten, aber nur diese fanden sie im Moment unter den Papieren, daß ganze Dörfer vom Wahnsinn erfaßt worden seien, Alpträume bei Tageslicht durch die Straßen wandelten, doppelköpfige Kälber, die sogar sprechen konnten, sollten angeblich geboren worden sein, und Schattenwesen tauchten plötzlich aus heiterem Himmel auf. Sheriam und die beiden anderen übergingen diese Berichte leichthin. Die gleiche Art von unmöglichen Geschichten war auch aus Teilen von Altara und Murandy und über den Fluß weg aus Amadicia bis nach Salidar gedrungen. Die Aes Sedai taten das als pure Hysterie unter den Menschen ab, die vom Wiedergeborenen Drachen erfahren harten. Elayne war sich da nicht so sicher. Sie hatte Dinge erlebt, von denen die Aes Sedai nichts wußten, trotz all ihrer Erfahrung und ihres fortgeschrittenen Alters. Von ihrer Mutter sagten Gerüchte, sie stelle im Westen Andors ein Heer zusammen, und das ausgerechnet auch noch unter der uralten Flagge von Manetheren! Andere wiederum besagten, Rand halte sie gefangen oder sie fliehe von einem Land ins andere, einschließlich der Grenzlande und Amadicias, wobei letzteres ja absolut undenkbar war. Offensichtlich glaubte man in der Burg nichts von alledem. Elayne wünschte, sie wüßte, was sie nun glauben könne.
Sie hörte auf, sich über den wirklichen Verbleib ihrer Mutter Gedanken zu machen, als sie vernahm, daß Sheriam ihren Namen nannte. Sie sprach nicht mit ihr, sondern las nur hastig etwas auf einem quadratischen Blatt, aus dem schnell eine lange Pergamenturkunde mit drei Siegeln am
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