Herr des Chaos
engen Lücke zwischen Traum und Wirklichkeit.
Hätte sie hier ein Herz besessen, es hätte wie wild geschlagen. Sie glaubte nicht, daß die beiden sie gesehen hatten, aber was, unter dem Licht, machten, sie hier, in einem Teil der Burg, der überhaupt nichts Interessantes enthielt? Bei diesen nächtlichen Erkundungsgängen mied sie sorgfältig jede Nähe zum Arbeitszimmer der Amyrlin, zu den Quartieren der Novizinnen und sogar denen der Aufgenommenen. Es schien ihr, daß irgend jemand sich stets dort aufhielt, wenn nicht Nynaeve oder Elayne oder beide, dann jemand anders. Natürlich hätte sie Nynaeve oder Elayne ansprechen können -sie konnten gewiß ein Geheimnis wahren - aber irgend etwas sagte ihr, sie solle davon Abstand nehmen. Sie hatte davon geträumt, und jedesmal erschien es ihr wie ein Alptraum. Nicht die Art, bei der man schweißgebadet erwachte, sondern eher diejenige, bei der man sich gequält herumwälzte. Diese anderen Frauen. War den Aes Sedai in Salidar klar, daß Fremde in der Weißen Burg der Welt der Träume wandelten? Für sie zumindest waren es Fremde. Sollten sie das nicht wissen, hatte sie keine Möglichkeit, sie zu warnen. Jedenfalls keine, die sie anwenden durfte. Es war niederschmetternd!
Der riesige, sternenübersäte Ozean der Dunkelheit wogte um sie, schien sich zu bewegen, während sie stillstand. Wie ein Fisch, der in diesem Meer zu Hause war, schwamm sie selbstsicher weiter. Sie mußte genausowenig dabei denken wie der Fisch. Diese flackernden Lichter waren Träume, alle Träume aller Menschen auf der Welt. Menschen aller Welten, derer, die nicht ganz mit ihrer eigenen übereinstimmten, und solcher, die völlig anders und fremdartig waren. Verin Sedai hatte ihr zuerst von jenen erzählt, und die Weisen Frauen hatten ihre Existenz bestätigt. Und dann hatte auch sie selbst Derartiges gesehen, flüchtige Blicke auf Dinge erhascht, die einfach nicht existieren konnten, nicht einmal im Traum. Keine Alpträume - die schienen immer in ein Rot oder Blau oder ein schummriges Grau wie in tiefe Schatten getaucht - jedoch erfüllt von unmöglichen Dingen. Es war besser, ihnen aus dem Weg zu gehen, denn ganz eindeutig paßte sie nicht in diese Welten. Wenn sie in einen solchen Traum hineinspähte, war es, als sei sie plötzlich von Spiegelscherben umgeben, die um sie herumwirbelten, so daß es weder ein oben noch unten gab. Dann verspürte sie den Wunsch, sich zu übergeben, und wenn sie hier auch keinen Magen besaß, wartete doch einer auf sie, sobald sie in ihren Körper zurückkehrte. Doch sich zu übergeben war nicht gerade erstrebenswert, um aufzuwachen.
Sie hatte auf diese Weise ganz allein einiges gelernt und dem hinzugefügt, was die Weisen Frauen sie gelehrt hatten, ja, sie war sogar Wege gegangen, die jene vor ihr versperrt hätten. Und doch... Sie bezweifelte nicht, daß sie mehr, viel mehr in Erfahrung gebracht hätte, wenn ihr eine Traumgängerin zur Seite stünde. Sicher, sie hätte ihr gesagt, dies sei noch zu gefährlich und jenes ganz verboten, aber ihr auch vorgeschlagen, was sie ebenfalls ausprobieren könne. Die einfachen Dinge, die leicht herauszufinden waren - nun gut, nicht ganz so leicht, das waren sie nie -, hatte sie längst hinter sich gelassen und einen Punkt erreicht, von dem aus sie den nächsten Schritt auch allein tun konnte, aber es waren Schritte, die von den Traumgängerinnen unter den Weisen Frauen schon vor langer Zeit unternommen worden waren. Wofür sie einen Monat brauchte, um es aus eigener Kraft zu beherrschen, könnten sie ihr in einer Nacht, ja, in einer Stunde beibringen. Wenn sie entschieden, daß sie dafür bereit sei. Vorher nicht. Das wurmte sie, denn alles, was sie wollte, war ja, zu lernen! Alles zu lernen. Jetzt gleich. Augenblicklich.
Ein Lichtpünktchen sah genauso aus wie jedes andere, und doch hatte sie gelernt, eine Handvoll davon zu identifizieren. Dabei wußte sie nicht einmal genau, wie ihr das möglich war, und das war etwas, was ihr ungeheuer gegen den Strich ging. Selbst die Weisen Frauen hatten davon keine Ahnung. Und dennoch, sobald sie herausfand, welcher Traum zu welcher Person gehörte, konnte sie deren Träume künftig so sicher aufspüren wie ein Pfeil das Ziel, und wenn sie sich auch auf die andere Seite der Welt begaben. Dieses Licht dort war Berelain, die Erste von Mayene, die Frau, der Rand die Führung in Cairhien anvertraut hatte. Egwene fühlte sich nicht sehr wohl, wenn sie in Berelains Träumen herumspionierte.
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