Herr des Chaos
Dutzend Versuche, Salidar zu finden, hatte bisher genau die gleichen Resultate erbracht wie ihr Bemühen, das Wachgewebe um Rands Träume zu durchdringen. Entfernungen und Position hier hatten absolut nichts mit denen der wachenden Welt zu tun. Amys behauptete sogar, hier gebe es weder Entfernung noch Position. Andererseits konnte sie genausogut...
Überraschenderweise begann mit einem Mal der Lichtpunkt, der ihren Blick immer wieder anzog, auf sie zuzutreiben. Er schwoll an, und was zuerst ein ferner Stern gewesen war, wurde nun zu einem weißen Vollmond. Ein Funken der Angst keimte in ihr auf. Einen Traum zu berühren und hineinzuspähen war einfach - wie ein Finger das Wasser so leicht berührt, daß das Wasser am Finger haftet aber die Oberfläche nicht bewegt wird - doch das alles richtete sich nach ihrem freien Willen. Eine Traumgängerin suchte sich den Traum aus, nicht umgekehrt. Sie befahl in Gedanken dem Traum, sich wegzubegeben, stellte sich die sternübersäte Schwärze wieder in Bewegung vor. Doch nur dieses eine Licht rührte sich und dehnte sich so aus, daß ihr gesamtes Gesichtsfeld von weißem Licht erfüllt wurde. Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen. Weißes Licht. Nichts als weißes Licht, das sie in sich aufnahm...
Sie blinzelte und sah sich erstaunt um. Ein ganzer Wald mächtiger weißer Säulen erstreckte sich um sie. Die meisten erschienen ihr verschwommen, undeutlich, besonders die am weitesten entfernten, aber eines konnte sie ganz deutlich erkennen: Gawyn, der über den weiß gefliesten Fußboden auf sie zu schritt. Er trug einen einfachen grünen Rock, und auf seiner Miene mischten sich Angst und Erleichterung. Jedenfalls war es annähernd Gawyns Gesicht. Gawyn sah vielleicht nicht so blendend aus wie sein Halbbruder Galad, doch er war trotzdem ein sehr gut aussehender Mann. Aber dieses Gesicht kam ihr ... gewöhnlich vor. Sie versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht, jedenfalls nicht nennenswert Ihr Rücken berührte eine der Säulen, und ihre Handgelenke wurden von Ketten hoch über ihrem Kopf festgehalten.
Das mußte Gawyns Traum sein. Unter all diesen ungezählten Lichtpunkten hatte sie ausgerechnet bei seinem Traum haltgemacht. Und war irgendwie hineingezogen worden. Wie - diese Frage mußte sie sich für später aufheben. Jetzt wollte sie vor allem wissen, wieso er davon träumte, sie gefangenzuhalten. Energisch hielt sie sich an die Wahrheit, die in ihrem Gehirn schlummerte. Dies war ein Traum, der Traum eines anderen Menschen. Sie war immer noch sie selbst und nicht, was er in ihr sehen wollte. Nichts hier konnte ihr wahres Ich berühren. Diese Wahrheiten wiederholte sie wie ein Gebet in ihrem Kopf. Das machte es ihr wohl schwer, an etwas anderes zu denken, aber solange sie daran mit aller Macht festhielt, konnte sie es riskieren, hier zu verweilen. Wenigstens solange, bis sie herausfand, welche eigenartigen Zwangsvorstellungen diesem Mann im Kopf herumspukten. Sie gefangenzuhalten!
Mit einem Mal erblühte eine mächtige Flammenfontäne über den Fliesen, und beißender, gelber Qualm stieg empor. Rand trat aus diesem Inferno heraus, ganz in goldbesticktes Rot gekleidet, wie es einem König gebührte. Er stand Gawyn gegenüber, und Feuer und Qualm verblichen. Nur sah er kaum wie der echte Rand aus. Der wirkliche Rand war etwa genauso groß und breit wie Gawyn, während dieses Traumbild Gawyn um einen Kopf überragte. Das Gesicht erinnerte nur vage an Rand, war gröber und härter, als es sein sollte, das kalte Gesicht eines Mörders. Dieser Mann verzog höhnisch den Mund. »Du wirst sie nicht bekommen«, stieß er hervor.
»Du wirst sie nicht behalten«, erwiderte Gawyn ruhig, und plötzlich hielten beide Männer Schwerter in den Händen.
Egwene starrte die Szene mit aufgerissenen Augen an. Nicht Gawyn war es, der sie gefangenhielt. Er träumte davon, sie zu befreien! Aus Rands Gefangenschaft! Es war Zeit, diesen Wahnsinn hinter sich zu lassen. Sie konzentrierte sich darauf, draußen zu sein und dies von außen her zu betrachten. Nichts geschah.
Die Schwerter klirrten aufeinander, und die beiden Männer tanzten einen tödlichen Tanz. Tödlich jedenfalls, wäre es nicht ein Traum gewesen. Es war alles Unsinn. Ausgerechnet von einem Duell mit Schwertern zu träumen. Und es war kein Alptraum; alles wirkte echt vielleicht ein wenig verschwommen, aber keineswegs verfärbt. »Die Träume eines Mannes stellen ein Labyrinth dar, das auch er selbst nicht kennt«, hatte
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