Herr des Lichts
könnte durch die Luftschächte eindringen, für Menschen jedoch sind sie zu eng. Es gibt aber in dem Himmelsberg auch eine ganze Reihe von Aufzugsschächten. Mit den größeren Aufzügen könnten leicht viele Menschen hinaufbefördert werden. Natürlich werden die Schächte bewacht. Aber wenn man die Wachen tötet und die Alarmanlagen ausschaltet, sollte es gelingen. Zuweilen wird auch die Kuppel an einigen Stellen geöffnet, um Flugkörper herein- und hinauszulassen.«
»Sehr gut«, sagte Siddhartha. »Ein paar Wochen Fußreise von hier liegt ein Reich, in dem ich Herrscher bin. Es regiert zwar nun schon seit vielen Jahren ein Statthalter dort für mich, aber wenn ich zurückkehre, kann ich eine Armee rekrutieren. Eine neue Religion verbreitet sich jetzt über das Land. Die Menschen haben nicht mehr die alte Ehrfurcht vor den Göttern.«
»Du willst den Himmel plündern?«
»Ja, ich will seine Schätze der Welt geben.«
»Das gefällt mir. Es wird nicht leicht sein, aber mit einer Menschenarmee und mit einer Armee Rakascha ist es wohl zu bewerkstelligen. Gib jetzt mein Volk frei, damit wir beginnen können.«
»Ich glaube, mir bleibt gar nichts anderes übrig als dir zu vertrauen«, sagte Siddhartha. »Beginnen wir also.« Und er schritt über den Boden des Höllenschachts und betrat den ersten Tunnel, der von hier in die Tiefe abzweigte.
An jenem Tag befreiten sie fünfundsechzig von ihnen, die die Höhlen nun mit ihren Farben, ihrer Bewegung und ihrem Licht füllten. Gewaltige Freudenschreie erklangen, und die Luft vibrierte, als sie unter ständigem Körperwechsel hin- und herfuhren und ihre Freiheit bejubelten.
Unerwartet nahm dann einer der Rakascha die Gestalt einer fliegenden Schlange an und stürzte sich mit gespreizten messerscharfen Krallen auf Siddhartha.
Einen Augenblick lang wandte der Bezwinger ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu.
Der Angreifer stieß einen kurzen krächzenden Schrei aus und zerfiel dann in einem blauweißen Funkenregen.
Die Funken erloschen. Der Rakascha war spurlos verschwunden.
Schweigen lag über den Höhlen, und nur die Lichter pulsten und hüpften über die Wände.
Siddhartha konzentrierte sich auf den größten der Lichtpunkte, auf Taraka.
»Hat er mich angegriffen, weil du von neuem meine Kräfte erproben wolltest?« fragte er. »Weil du sehen wolltest, ob ich auch wirklich töten kann, so wie ich es dir gesagt habe?«
Taraka schwebte näher heran. »Er hat nicht auf mein Geheiß hin angegriffen«, erklärte er. »Ich glaube eher, die Gefangenschaft hatte ihn halb um den Verstand gebracht.«
Siddhartha zuckte die Achseln. »Die nächsten Stunden gehören euch«, sagte er. »Ich möchte mich etwas ausruhen von den heutigen Anstrengungen.«
Er verließ die Nebenhöhle und kehrte in den Höllenschacht zurück. Dort legte er sich auf seine Decke und schlief ein.
Er fiel in einen Traum. Er lief.
Sein Schatten lag vor ihm, und als er auf ihn zu lief, wuchs er.
Er wuchs, bis er nicht länger mehr sein eigener Schatten war, sondern eine fremde, groteske Silhouette.
Plötzlich wußte er, daß sein Schatten von dem seines Verfolgers überdeckt worden war: überdeckt, angegriffen, überwältigt und unterdrückt.
Einen Augenblick lang ergriff ihn auf der Alptraumebene, über die er floh, eine schreckliche Panik.
Er wußte, daß jener bizarre Schatten nun ihm gehörte.
Das Verhängnis, das über ihm geschwebt hatte, hatte ihn ereilt.
Er wußte, daß es sein eigenes Verhängnis war.
Und in dem Bewußtsein, daß er sich selbst endlich eingeholt hatte, lachte er laut, obwohl ihm in Wirklichkeit nach Schreien zumute war.
Als er wieder erwachte, marschierte er.
Er marschierte die Windungen des Wandpfads von Höllenschacht hinauf.
Er passierte die gefangenen Flammen.
Und als er an ihnen vorbeischritt, rief jede von ihnen ihm zu:
»Laßt uns frei, Ihr Herren!«
Langsam schmolzen die Ränder des Eisblocks, zu dem sein Denken eingefroren war.
>Herren<, hatten sie gerufen.
Herren?
Mehrzahl. Nicht Einzahl.
Er wußte jetzt, daß er nicht allein ging.
Doch keine der tanzenden, flackernden Formen bewegte sich über ihm, keine bewegte sich unter ihm durch die Finsternis.
Diejenigen, die gefangen waren, waren noch immer gefangen. Die, die er befreit hatte, waren verschwunden.
Er stieg die hohe Wand von Höllenschacht hinauf. Keine Fackel erhellte seinen Weg. Aber dennoch sah er.
Er sah jede Einzelheit des Felspfades, als ob Mondschein darauf läge.
Er wußte, daß
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