Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
Nur passte dann Attego nicht ins Bild. Bren war sicher, dass der Dunkelrufer ihr nichts aus freien Stücken verraten würde, die Rivalität zwischen den beiden war überdeutlich. Aber Jittara verfügte sowohl über handfeste als auch über magische Mittel, jemandem gegen seinen Willen zu entreißen, was er wusste. Sie würde kaum riskieren, Attego grundlos zu verstümmeln, aber sie hatte eine Spur. Sie wusste, dass Monjohr, der Ghoulmeister, ermordet worden war. Vielleicht wusste sie auch von Nalajis Flucht aus Orgait. Attego, Monjohr, Nalaji … Sie alle hatten etwas mit Kirettas Überleben zu tun. Aber sie waren nur minderwertige Figuren in diesem Spiel. Wie Gadior gesagt hatte: Menschen mit kurzer Vergangenheit und wenig Zukunft. Am Ende ging es immer um die Unsterblichen. Aber welcher Unsterbliche hätte ein Interesse daran, dass Kiretta überlebte, nachdem Lisanne ihr den Haken vom Arm gerissen und sie verblutend zurückgelassen hatte? Das war das Rätsel, das Bren lösen musste. Dann wäre er einen Schritt näher daran, zu verstehen, wer sein Feind und wer sein Freund war. Sofern Osadroi Freunde haben konnten.
»Schon vor dem Angriff der Fayé gab es einige Unruhe in Orgait«, tastete Bren.
Gadior lächelte schief. »Es geschieht nicht jede Nacht, dass eine verlorene Schattenherzogin reumütig zurückkehrt und dass ein neuer S CHATTENKÖNIG den Schädelthron besteigt.«
»Es gab auch Streit zwischen den Osadroi.«
»Daran wart Ihr nicht unbeteiligt, wenn ich mich recht entsinne.« Seufzend legte er ihm die Hand auf die Schulter, eine Berührung, so sanft wie eine Rabenfeder. »Das Ungestüm der Jugend. Der Kult warnt davor, aber ich sage Euch, Ihr werdet es vermissen, wenn es erst fort ist. Die Erinnerung wird selbst zu einer Erinnerung, wenn niemand mehr lebt, der Euch sah, als Euer Herz noch in Eurer Brust schlug.«
Bren nahm das Holzschwert auf, das Zurresso entfallen war, und befestigte es neben seinem eigenen im Ständer. Die Schweißspur auf dem Boden zeigte den Weg, den sein Gegner zurückgelegt hatte.
»Was habt Ihr mit Ehla vor?«, fragte Gadior. »Eurer Mutter?«
Bren hatte sie ein paarmal getroffen. Er fand es schwierig, mit ihr zu reden, aber es war nicht ohne Reiz, sie zu beobachten, wie sie von der Verehrung für das überwältigt wurde, was aus ihrem Sohn geworden war. Immer wieder stockte ihr der Atem, wenn sie ihn ansah. »Ich habe noch nicht entschieden, was mit ihr geschehen soll.«
»Nehmt die Erinnerung wichtig«, sagte Gadior. »Glaubt mir, die Zeit wird kommen, da werdet Ihr den Möglichkeiten nachtrauern, die Ihr mit jenen hattet, die Euch schon als Mensch begleitet haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Sei es Zerstörung oder Pflege. Nur genutzte Macht ist echte Macht.«
Unwillkürlich wanderte Brens Blick zu der Kiste, in der er Kirettas Haken verwahrte.
Kiretta hatte ihre Hände zu einer Schale geformt, als hätte sie damit Quellwasser geschöpft. Bren war zu weit entfernt, um zu erkennen, was sie dort so vorsichtig hielt, aber er sah das Licht, das davon ausging. Sein Orange wärmte Kirettas Gesicht, entzündete ihr rotes Haar, floss ihren schlanken Hals hinab, beleuchtete die Wölbungen ihrer Brüste, bis es vom schwarzen Stoff eines Kleids geschluckt wurde. Bren wunderte sich darüber, dass Kiretta zwei gesunde Hände hatte. Bei ihrem Kennenlernen war bereits der messerscharfe Haken an ihrem rechten Arm gewesen. Als er ihr das letzte Mal begegnet war, hatte sie dort einen Verband über ihrem Stumpf getragen.
Man sagte, dass die Träume von Schattenherren unbegreiflich für einen menschlichen Verstand waren. Dennoch mussten diese deutlichen Bilder, die Bren sah, ein Traum sein. Er blickte in Kirettas lächelndes Gesicht. Die Lippen waren voll und frisch. Er erinnerte sich an ihren Geschmack. Einmal hatte sie einen Schluck Rum im Mund gehabt, als sie ihn geküsst hatte. Er hatte den Brand in seiner Kehle ausgehalten, während sie die feurige Flüssigkeit in ihn hineingepresst hatte. Auch jetzt sah er den Schalk in ihren Augen funkeln.
Dieses Traumbild war genauso viel oder wenig rätselhaft wie jene, die Bren als Mensch gehabt hatte. Das einzig Ungewöhnliche mochte sein, dass er wusste, dass er träumte. Träumte wie ein Mensch.
Wie viel Menschliches war noch in ihm?
Was hielt Kiretta dort vor ihrem Gesicht? Das Licht sah so warm aus, als könne es im härtesten Nordwind vor dem Kältetod bewahren, und zugleich so milde, dass man sich unmöglich daran hätte
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