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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Corin
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eine schwere Verletzung erlitten. Mit fünf Jahren hatte sie sich drei Knochen in der linken Hand gebrochen. Daran konnte sie sich nicht mehr erinnern, doch ihre Eltern hatten den kleinen Gips aufgehoben – den alle im Heim, in dem sie damals lebte, unterschrieben hatten –, und als sie sich mit elf beim Sturz vom Klettergerüst das Schlüsselbein brach, blieben ihre Eltern die ganze Nacht bei ihr im Krankenhaus und zeigten ihr die kleine Gipshand – ihr und überhaupt jedem, der in der Nähe war. Sie erzählten ihr so viele Geschichten aus Esmes und ihrer eigenen Kindheit, bis sie die Schmerzen im Schlüsselbein vergaß und irgendwann einschlief.
    Mit sechzehn brach sie sich dasselbe Schlüsselbein, als sie eine Treppe hinunterfiel. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass die Treppe gerade gebohnert worden war und der Hausmeister vergessen hatte, ein Schild aufzustellen. Wieder kam sie ins Krankenhaus, und wieder brachten ihre Eltern die kleine Hand vorbei. Sie hielten den Gips an ihre Teenagerhand und bestaunten den Größenunterschied.
    Dann, mit achtzehn, begann sie zu studieren, und ihre Eltern verschwanden, und mit ihnen die kleine Gipshand. Insofern war es nicht verwunderlich, dass sie auf dem Badezimmerboden in ihrem Haus auf Long Island an den Gips denken musste. Es verging sowieso nicht ein einziger Tag, an dem Esme nicht an ihre Eltern dachte, aber an den kleinen Gips hatte sie seit Jahren nicht mehr gedacht. Sie konnte ihn fast vor sich sehen, die vielen unleserlichen Grüße, die die Freunde ihrer Eltern in schwarzer und blauer und roter Tinte daraufgeschrieben hatten (und nicht etwa ihre eigenen Freunde –, denn mit fünf Jahren war sie zu schüchtern gewesen, um Freunde zu haben). Sie stellte sich vor, die Botschaften wären Tätowierungen und der Gips alte Haut, aus der sie mit sechs Jahren geschlüpft war. Wie sehr sie sich jetzt wünschte, wieder hineinschlüpfen zu können …
    Doch Selbstmitleid war nutzlos. Sie wischte sich über die Augen, versuchte den vom Percocet verursachten Nebel wegzureiben. Sie musste unbedingt raus aus diesem Haus. Nicht übertreiben. Ganz langsam. Kleine Babyschritte. Je schneller sie gesund wurde, desto schneller konnte sie all das hinter sich lassen. Desto früher konnte ihr Schwiegervater wieder verschwinden. Desto früher konnte sie sich wieder um den Fall kümmern.
    Aber erst einmal musste sie vom Boden aufstehen.
    Leichter gesagt als getan. Ihre Muskeln waren wie Pudding, und Pudding reagierte nicht allzu sehr auf Befehle. Sie schlug auf ihre Schenkel, um sie aufzuwecken. Sie antworteten mit einem selbstgefälligen Grinsen und fuhren dann fort, sie zu ignorieren.
    „Verflucht noch mal!“, murmelte sie. Selbst ihre Worte klangen verwaschen. Konnten Worte einfach verdunsten? Während sie darüber nachgrübelte, begannen ihre Lider sich flatternd zu schließen. Vielleicht noch ein paar Sekunden schlummern, das konnte nicht schaden. Sie konnte auch morgen loslegen. Es gab schließlich kein Gesetz, das sie zwang …
    Halt! Jetzt nicht schlappmachen. Denk an Sophie. Denk an Rafe. Schwing deinen betäubten Hintern hoch. Mach die Augen auf. Mach sie auf! Gut. Und jetzt zieh dich am Waschbecken hoch. Zieh dich hoch – okay, vielleicht besser am Türknauf. Babyschritte. Jetzt ziehen. Ziehen! Arbeite mit deinen Armen, Dummerchen, nicht mit deinem Rücken. Gut.
    Jetzt ein paar positive Bestärkungen.
    Sie schlurfte aus dem Badezimmer an der Couch vorbei – die so weich und einladend aussah – und schaffte es bis zu ihrem Schreibtisch. Auf dem Computer leuchtete der alte Bildschirmschoner, den sie vor ein paar Monaten heruntergeladen hatte: Dutzende Toaster flogen von links nach rechts. Sie streckte die Hand nach dem Hauptprozessor aus, auf dem ihr iPod am Computer angeschlossen war. Seit Amarillo hatte sie sich nichts mehr angehört. Die Fernsehkommentatoren waren ihr Soundtrack gewesen.
    Sie fischte die Ohrstöpsel heraus und steckte sie in die Ohren. Dann scrollte sie mit dem Daumen durch die vielen Alben. Sie brauchte etwas Schnelles. Nicht Joy Division, nicht die Smiths. Babyschritte.
    ABBA. „Waterloo“.
    In so vielerlei Hinsicht perfekt.
    Sie drückte „Play“ und ließ sich von dem albernen schwedischen dreiminütigen Overdub-Meisterwerk durchdringen, bis jede Faser ihres Körpers wach war. Sie ließ jede einzelne Muskelgruppe gähnen und lächeln. Zeit, wieder mitzuspielen, Leute. Auf der Computeruhr war es 12:56 Uhr. Perfekt. Normalerweise kam um diese

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