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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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ein phantastischer Lärm um ihn herum, und Herr Lehmann blieb einige Zeit verwirrt in der Nähe des Eingangs stehen, um sich überhaupt erst einmal zu orientieren. Er mochte es nicht, sich irgendwo bewegen zu müssen, wo er sich nicht auskannte, und das allgemeine Gewimmel verwirrte ihn sehr, ihm wurde sofort bewußt, daß er nicht richtig dazugehörte. Überall liefen Leute herum, halbnackte Menschen jeden Alters und Geschlechts stapften durch Fußwaschbecken oder duschten sich darin stehend und prustend kalt ab, Rentner schritten schlurfend vorbei, junge Türken hauten sich gegenseitig unter Geschrei und Gejohle mit nassen Handtüchern auf die Oberkörper, kleine Kinder trugen leere Flaschen in den Armen oder wickelten stolpernd Eis am Stiel aus dem Papier, und aus den Umkleidebereichen rechts und links von Herrn Lehmann quollen auch unaufhörlich Leute heraus und drängelten Leute hinein, weiter hinten war eine Art Kneipen- oder Imbiß- oder Kioskbereich oder, wie Herr Lehmann es für sich zusammenfaßte, die Gastro zu sehen, und da standen Unmengen von Menschen in mehreren Schlangen nach irgend etwas an oder saßen an Tischen und verzehrten bereits irgend etwas, Leute riefen einander etwas zu, Leute winkten, rannten, schlenderten, und vom Schwimmbeckenbereich, der etwas hinter Büschen und Hecken verschwand, drangen Plansch- und Schreigeräusche und eine für ihn unverständliche Lautsprecherdurchsage zu ihm durch, und dahinter, in der Ferne, das wußte Herr Lehmann, gab es noch unendliche Liegewiesen, und überall waren Leute, und über allem lag ein leichter Chlorgeruch mit einem Hauch von Pommes.
    Um erst einmal nichts falsch zu machen, ging Herr Lehmann zum Umkleidebereich rechts von ihm, den kannte er schon, da hatte er sich schon damals umgezogen, als er das letzte (und erste und einzige) Mal hier gewesen war. Der Männerbereich war dort mit einem großen Piktogramm und der Signalfarbe Blau ausgewiesen, und das war auch gut so, denn Herr Lehmann hatte vor allem davor Angst, aus Versehen in den Frauen-Umkleidebereich zu gehen und dort des Spanner- und Lustmolchtums bezichtigt zu werden, gerade jetzt zog dieses Bild in einer Art Wach-Alptraum durch sein Bewußtsein und ließ ihn erschaudern. Deshalb ging er vorsichtig und sich anderen Männern, die das gleiche taten, anschließend in den Männer-Umkleidebereich und hatte das gute Gefühl, die schwierigste Hürde bereits genommen zu haben. Dann benutzte Herr Lehmann, der schon in den siebziger Jahren der Meinung gewesen war, daß die befreiende Wirkung der Zurschaustellung des eigenen nackten Körpers maßlos überschätzt wurde, eine der Umkleidekabinen, um in seine Badehose zu steigen. Es handelte sich dabei um Badeshorts, so hatten sie es bei Karstadt am Hermannplatz genannt, als er sie gekauft hatte, damals, um Birgit einen Gefallen zu tun, es war ein scheußliches Ding mit einem grellbunten, schwindelig machenden Muster, das er nur deshalb genommen hatte, weil die anderen Modelle, die sie damals bei Karstadt am Hermannplatz gehabt hatten, noch schlimmer gewesen waren, so war damals die Mode in Neukölln gewesen, dachte Herr Lehmann und stieg in das grauenhafte Textil hinein, das jetzt, wo Herr Lehmann auf seinen dreißigsten Geburtstag zuging, am Hintern etwas spannte. Dann warf er sich das Handtuch über die Schulter, nahm das Vorhängeschloß in die rechte und seine Kleidung und die Schuhe in einem Bündel in die linke Hand, verließ die Umkleidekabine, fand mit einiger Mühe einen leeren Spind, warf alles außer dem Handtuch hinein, versperrte ihn mit dem Vorhängeschloß und trat hinaus ins Freie.
    Und Herr Lehmann fühlte sich wirklich irgendwie frei, als er so durch das Gedränge tappste und dabei den warmen Stein unter seinen nackten Fußsohlen verspürte. Irgendwie fand er es jetzt doch gut, daß es hier so voll war, er mochte den Trubel irgendwie und fühlte sich darin unbeobachtet. Unter all den Leuten war es egal, was er tat, es war egal, daß seine Badehose spannte und daß seine Haut, von den Unterarmen und dem Gesicht einmal abgesehen, weiß wie ein Fischbauch war. Das interessiert hier kein Schwein, dachte Herr Lehmann, hier fällt überhaupt nichts und niemand mit irgend etwas auf, dachte er, und machte sich bloß Sorgen, was Katrin, die schöne Köchin aus der Markthallenkneipe, wohl denken würde, wenn sie ihn so sah. Und die Frage war auch, wie er sie überhaupt finden sollte. Er suchte nach einer öffentlichen Uhr, und als er eine sah,

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