Herr Lehmann
Blödsinn, dachte er, aber was soll’s.
Detlev lachte und sah auf ihn hinunter wie auf etwas, das der Hund vor die Tür gelegt hatte. “Wen haben wir denn da? Den Obergewerbeaufseher oder was? Und von welchem Gewerbe? Vom Schleimvotzenleckergewerbe, oder was?”
Das geht nicht gut, das geht nicht gut, dachte Herr Lehmann. Er stand auf und haute Detlev mit aller Kraft auf die Nase. Detlev zuckte nicht zurück, er steckte den Schlag weg wie nichts und dann streckte er in aller Seelenruhe eine große Pranke nach Herrn Lehmanns Gesicht aus. Das geht nicht gut, dachte Herr Lehmann, das geht nicht gut. Er packte Detlevs Hand, fand einen Finger und biß hinein. Und während er biß, fand er Gefallen daran, er spürte seine Kiefermuskeln arbeiten, und er biß weiter und weiter, und es war ihm, während diese große fleischige Hand vor seinem Gesicht zappelte und sich hin und her drehte und er durch die überlegene Kraft des Mannes, den sie Detlev nannten, hin- und hergeschleudert wurde, als ob es knirschte zwischen seinen Zähnen. Ich bin schon auf dem Knochen, dachte er tranig und nahm gar nicht wahr, welch hektische Aktivitäten sich um ihn herum entfalteten. Leute sprangen auf, Stühle fielen um, Detlev schrie wie am Spieß, Karl, Katrin, Sylvio und andere warfen sich dazwischen und versuchten, sie zu trennen, das ganze war ein hin- und herwogendes Riesengewühl mit Herrn Lehmann und Detlev in der Mitte, aber ihm, dem beißenden Herrn Lehmann, wa alles egal, er war alleine mit seinen Zähnen und seinen Kiefermuskeln und mit einem blutigen Geschmack im Mund, den er nie mehr vergessen würde. “Laß los, laß los”, schrie Karl in sein Ohr, “der hat genug, laß los.”
Und dann ließ er los und plötzlich war alles vorbei. Sie waren draußen auf der Straße, Fäuste wurden geschüttelt, und Detlevs Schreien entschwand in der Ferne, während Herr Lehmann und seine Freunde die Oranienstraße in Richtung Adalbertstraße entlanghasteten, er hörte einen Mann etwas rufen und sah, wie Karl jemanden, der ihnen nachlief, in einen Hauseingang schleuderte, und dann waren sie um die Ecke, wo alle verschnauften, während er wieder und wieder ausspuckte, um den metallischen Geschmack von Detlevs Blut loszuwerden.
“Nicht schlecht, nicht schlecht”, hörte er Karl sagen. Er blickte auf und sah sie alle im Lichtschein eines Döner-Imbisses versammelt: Karl, Sylvio, Katrin, die etwas weinte, und Kristall-Rainer, der sie tröstete, was ihm überhaupt nicht gefiel.
“Scheiße, Scheiße, Scheiße”, sagte Sylvio und legte ihm einen Arm um die Schulter. “Du bist in Ordnung”, fügte er seltsamerweise hinzu, und Herr Lehmann war ihm sehr dankbar dafür.
“Schnaps für alle, so geht das nicht weiter”, rief sein bester Freund Karl, den das alles nicht erschüttert hatte. Im Gegenteil, er war gut drauf, er hatte einen Plan. Sofort. Nicht lange überlegen. “Ruhe im Schiff. Ich weiß was! Alle mir nach.”
Sie folgten ihm. Die Bewegung tat allen gut. Sie gingen sehr schnell und keuchten dabei, sei es vor Anstrengung, sei es vor Aufregung. Gehen, dachte Herr Lehmann, um sich abzulenken, unterscheidet sich vom Laufen dadurch, daß immer ein Fuß auf der Erde ist, beim Gehen sind nie beide Füße zugleich in der Luft wie beim Laufen, dachte er, das ist der entscheidende Unterschied, das hat nichts mit Geschwindigkeit zu tun, dachte er, während sein bester Freund Karl sie alle mit sich zog. Sie hasteten ihm hinterher, erst die Adalbertstraße hinunter unter dem Neuen Kreuzberger Zentrum hindurch, dann über die Skalitzer Straße und weiter geradeaus die Admiralstraße hinunter, über den nächtlich schwarzglitzernden Landwehrkanal hinweg und die Grimmstraße entlang, wo sie auf Karls Befehl hin links ins Savoy einkehrten, eine nach Herrn Lehmanns Meinung dämliche, ganz und gar absurde und darin typische Kreuzberg-61-Kneipe, in der er seit Jahren nicht mehr gewesen war, und die er noch nie gemocht hatte, schon weil sie da einen Billardtisch hatten, was Herr Lehmann nicht leiden konnte, und darüber hinaus auch noch einen Teppichboden, was für Herrn Lehmann der Irrtum aller Irrtümer war. Aber Karl, dachte Herr Lehmann, wird schon wissen, was er tut, Karl hat alles im Griff, dachte er und kam sich vor wie ein Flüchtling, wir haben uns quasi nach 6l geflüchtet, ins Exil und dann noch ins Savoy, dachte er, aber da saß er schon an einem Tisch, und sein bester Freund Karl redete mit einer Frau hinterm Tresen, die er gut zu
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