Herr Lehmann
gefehlt, dachte er, als er hinter dem Tresen stand und Karl dabei zusah, wie er, sein dickes Hinterteil in die Höhe streckend, Bierflaschen in die Kühlschublade einräumte. Die Schicht ließ sich normal an, es war nicht viel los, aber immerhin genug, um beiden die Möglichkeit zu geben, sich für den Trubel eines Freitagabends warmzulaufen. Das Angenehmste daran, mit Karl zu arbeiten, war immer ihr wortloses Einverständnis gewesen, was zu tun sei und wer es tun sollte, sie waren wie zwei aufeinander eingestellte Kolben eines Motors, und wenn sie zusammenarbeiteten, lief alles rund. So war es jedenfalls früher gewesen, und so schien es wieder zu sein, dabei war es schon zwei Jahre her, daß sie das letzte Mal gemeinsam hinter dem Tresen gestanden hatten. So sollte es mit Freunden sein, dachte Herr Lehmann, wenn man sie wiedersieht oder wieder mit ihnen arbeitet, nach egal wie langer Zeit, dann sollte es so sein, als sei gar keine Zeit vergangen, dachte er, während sie zusammen Bierflaschen öffneten, Milchkaffee aufschäumten und Schnäpse eingossen.
Nach zehn Uhr füllte sich der Laden, und da es Freitag abend war, mischten sich viele Wochenend- oder Amateurtrinker, wie Karl sie immer nannte, unter die üblichen Verdächtigen, sie waren durch die Aussicht auf das vor ihnen liegende Wochenende gehörig aufgekratzt und hellten die Stimmung mit ihrer fröhlichen Ausgelassenheit ziemlich auf, es mischte sich viel Scherzen und Lachen in die über allem liegende Krachmusik, die Klaus und Marko immer als Avantgarderock bezeichneten. Karl hatte sie eingeworfen, nachdem er die Kassetten “mit der Scheiße von Heiko”, wie er es nannte, in der Küche in einem Kühlschrank versteckt hatte. Herr Lehmann hatte ihn gerade noch daran hindern können, sie in den Abfall zu werfen.
“Das kannst du nicht bringen”, hatte Herr Lehmann gesagt, und er war zum ersten Mal an diesem Abend leicht irritiert gewesen. Es war nicht Karls Art, sich wegen Musik zu ereifern.
“Das ist doch Scheißkram.”
“Wieso, du gehst doch auch dauernd ins Orbit, wo sie den Bummbumm scheiß immer spielen. Erwin hat sogar gesagt, da liegt die Zukunft.”
“Erwin hat keine Ahnung. Das ist nicht alles dasselbe, bloß weil es Bumm bumm macht. Da gibt es so was und so was.”
“Ja, aber die Tapes hat Heiko aufgenommen, die kannst du doch nicht einfach wegschmeißen.”
“Scheiß auf Heiko. Das ist Rotz.”
“Karl! Hör auf mit dem Scheiß.”
So hatte die Sache damit geendet, daß Karl die Kassetten im Kühlschrank versteckt hatte, was zwar ungewöhnlich kindisch, aber nicht völlig untypisch für ihn war, und Herr Lehmann hatte die Sache schnell wieder vergessen. Aber als es richtig voll wurde, passierten wieder einige Dinge, die Herrn Lehmann stutzig machten. Zum einen trank Karl ungewöhnlich viel Bier, während er arbeitete. Dann ließ er eine Flasche fallen. Dann wurde er wütend, weil sich der Mülleimer nicht richtig öffnete, wenn er auf die Pedale ttat, und einmal regte er sich so sehr darüber auf, daß er den Aschenbecher, den er hatte ausleeren wollen, einfach hineinwarf. Dann verschwand er immer mal wieder im Keller, nicht ohne Herrn Lehmann umständlich zu erklären, daß er das tat, um irgend etwas zu holen, was sie angeblich noch brauchten, Weizenbier oder Gläser oder irgend etwas, was aber meistens Unsinn war, zumal Herr Lehmann gar nicht nach einer Begründung gefragt hatte oder jemals gefragt hätte. Nichts von diesen Dingen war wirklich außergewöhnlich, aber alles zusammen machte Herrn Lehmann stutzig. Und irgendwann kam dann auch noch Erwin und wollte mit Karl reden. Sie gingen zusammen nach oben in Erwins Wohnung, während unten vor dem Tresen schon die Heide wackelte, und Herr Lehmann fragte sich langsam, ob nun wirklich alle verrückt geworden waren.
Aber dann kam Katrin und begrüßte ihn mit einem Kuß auf den Mund, und sie umschlang seinen Hals dabei, was sie vor anderen Leuten noch nie gemacht hatte und bisher auch von ihm in der Öffentlichkeit nicht hatte haben wollen, und das machte ihn so glücklich, daß er die nächsten fünf Flaschen Bier wahllos umsonst herausgab. Sie blieb eine Zeitlang am Tresen stehen und sah ihm bei der Arbeit zu, und er versuchte, mit ihr ein Gespräch in Gang zu halten, aber es war einfach zuviel zu tun, und nachdem sie sich anlächelnderweise einige belanglose Worte zugeworfen hatten, sahen sie beide ein, daß es in der jetzigen Situation nichts gab, was unbedingt gesagt werden
Weitere Kostenlose Bücher