Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
zum Arzt gehen, noch heute, wenngleich sie längst wusste, dass es keiner Überprüfung mehr bedurfte.
Anju zerrte ein paar Tücher aus der Kleenexpackung und schnäuzte sich, wischte sich die Augen trocken. Als Kind hatte das immer geholfen; sobald Mama ihr die Augen abgetupft hatte, waren die Tränen versiegt. Doch jetzt riss der Gedanke an ihrer Brust. Jetzt würde sie die Mama sein. Aber das kam nicht in Frage, war nicht vorgesehen. Etwas Warmes, Inniges strömte durch ihren Körper, barg sie für einen Moment, bis sie sich von neuem auf das Kissen warf.
Wie hatte sie mit beinahe dreißig Jahren so hirnlos sein können? Sie dachte an jenen Nachmittag zurück, als sie ihn bei der Hand genommen und in ihr Zimmer geführt hatte. Das war Hingabe gewesen, Liebe, zwei Menschen, die füreinander bestimmt waren.
»Blödsinn!« Schnaubend fuhr sie auf, angelte nach einem weiteren Tuch und hieb gegen die leere Packung, dass sie auf den Boden polterte. Sie hatten miteinander geschlafen, und jeder erwachsene Mensch wusste, was dabei passieren konnte. Liebe! Begierde war es gewesen, und die hatte ihr das Hirn verklebt. Sie hatte sich alles selbst eingebrockt, also lag es an ihr, das Problem zu lösen, und fertig. Energisch setzte sie sich auf die Bettkante, starrte auf das Regalgegenüber und schabte mit den wollbestrumpften Füßen über die Bodendielen. Riss mit den Zähnen an ihrem Daumennagel, bis es schmerzte. Sah Bilder von sich teilenden Eizellen, Zellhaufen, kaulquappenartigen Gebilden, daumenlutschenden Föten, die schwerelos in einem fremden Kosmos schwebten. Sah Kulleraugen und Stupsnasen und schließlich Wolfgang, kniend, lachend, seine Arme ausbreitend, während kurze, wacklige Beine ihm entgegenrannten, Wolfgang, am Flügel, ein Kind auf seinem Schoß, Patschhändchen, die auf die Tasten hieben, und ließ den Kopf vornübersinken, barg ihr Gesicht in den Händen und wünschte einmal mehr, es hätte dieses wahnsinnige Geständnis Wolfgangs nie gegeben. Denn trotz aller Furcht, trotz aller Vorbehalte war jeder Gedanke an ihn wie ein Arm, der sich um sie legte. Für gerade einmal einen Tag hatte sie geglaubt, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Mit aller Kraft hatte sie seitdem versucht, die Liebe und den Gedanken an Wolfgang Mustermann zu begraben, auszureißen wie ein Unkraut, dem kaum beizukommen war. Und jetzt? Da lebte etwas. Auch wenn es, kaum sichtbar, nur aus einem Haufen Gewebe bestand. Ein Mensch. Ein Kind. Ihr Kind. Und Wolfgangs Kind. Und sie schwang sich auf, Herrin über das Leben dieses Kindes zu werden? Es verschwinden zu lassen, bevor irgendjemand davon Kenntnis hätte? Es töten und herausreißen zu lassen aus ihrem Leib wie ein Geschwür? Wieder ließen Tränen ihre Augen brennen, und sie rang nach Luft.
Sie hatte sich immer gewünscht, eines Tages Kinder zu haben. Mit einem Mann wie Wolfgang, der klug, empfindsam und außergewöhnlich war. Der sah und fühlte und erlebte, und der sie beschenkte, mit Worten, Zärtlichkeiten und Musik. Seiner Musik. Nun trug sie sein Kind, und ihr war, als habe ihr Leben einen Sprung bekommen. Ohne nachzudenken, wusste Anju, dass ihr Leben diesen Sprung behielte, gleich einer Suppenschüssel, die nie mehr ganzund unversehrt werden könnte, selbst wenn ihr Kind nicht geboren würde. Etwas bliebe. Würde sie Tag für Tag an diese Liebe erinnern, die doch nie erreichbar gewesen war.
Ein Kind. Ihr Kind. Sie war verantwortlich für dieses Wesen, das noch keine Chance hatte, sich zu wehren.
Alleinerziehend. Das Wort klang in ihr wie eine ferne Krankheit, von der man glaubt, sie könne einen nicht erreichen. Aber war es so schlimm? Sie dachte an ihre Mutter, die hatte es auch fertiggebracht. Und Anju hatte nichts entbehren müssen, von Geld abgesehen. An ihren Vater erinnerte sie sich kaum und ohne Wehmut. Außer der Form ihrer Ohrläppchen und ihrem Nachnamen verband sie nichts mit ihm. Anju erschrak. Ein Gedanke durchfuhr sie. Was, wenn Wolfgangs Krankheit erblich war? Er hatte nicht den Eindruck gemacht, sich seines Zustands überhaupt bewusst zu sein. Würde er auf ihren Wunsch hin vielleicht einen Arzt aufsuchen? Möglicherweise sogar einer Therapie zustimmen? Sie spürte, wie Energie in ihr aufstieg, stand auf und huschte ins Badezimmer, ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen.
Als Erstes musste sie essen. Etwas Gesundes. Und dann zu ihm gehen. Nun gut, die Schüssel hatte einen Sprung, also galt es, sie so behutsam wie möglich durch das Leben zu
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