Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
und schließlich etwas auf einen Zettel notierte. Er redete tatsächlich wie mit einem Menschen. Herrje … Dies war gewiss wieder eine jener Absonderlichkeiten, ähnlich Piotrs Mechanikum, die Dinge möglich machten, die ihm bisher als ausgeschlossen galten. Sollte das Gerät tatsächlich in der Lage sein, die Stimme eines Menschen, der überhaupt nicht da war, an ein anderes, fernes Ohr zu bringen? Ihm fiel ein, dass er sich erst kürzlich über einejunge Frau gewundert hatte, die mutterseelenallein auf der Straße gestanden und heftig disputiert, dabei beständig die Hand an ihr Ohr gehalten hatte. Wolfgang hatte sie mitleidig belächelt und geglaubt, sie sei nicht recht gescheit. Unwillkürlich griff er sich wieder an die Augenbraue, bis Liebermann den Apparat weglegte.
»Sie sind wirklich ein Kauz, Mustermann. So können Sie doch nicht mit einer Auerbach sprechen. Seien Sie froh, dass sie Spaß versteht.« Er drückte Wolfgang einen neuen Zettel in die Hand. »Gehen Sie hin und benehmen Sie sich anständig. Sie zahlt gewiss zwanzig Euro pro Lektion.«
Wolfgang tappte folgsam hinter Liebermann aus dem Kontor, drehte sich dann jedoch noch einmal um und griff nach dem seltsamen Gerät. Was hatte darauf gestanden? S-I-E-M-E-N-S. Das war leicht zu merken. Zufrieden lächelte Wolfgang. Beim nächsten Mal musste er sich keine Blöße geben.
Wolfgang zählte die Tage bis zu Piotrs Rückkehr. Das kleine Kalendarium, das er sich aus einem Bogen Papier gebastelt hatte, glich einer Kerkerwand. Sorgfältig schrieb Wolfgang den Namen jedes begonnenen Tages an den Anfang einer neuen Zeile und notierte, bevor er zu Bett ging, was er am Tage komponiert hatte. Die Abendengagements im
Blue Notes
, die ihn wie dünne Fäden mit jener wackligen, neuen Welt dort draußen verbanden, hatte er mit rotem Stift vermerkt. Und so, wie er jeden Morgen behutsam zum Fenster schlich und nachsah, ob sich noch alles am gleichen Platz befand wie am Abend zuvor, so vergewisserte er sich mehrmals am Tage, dass die rote Schrift nicht etwa von jetzt auf gleich verschwunden wäre. Alles schien ihm möglich, nichts mehr gewiss.
Den Termin zur Lektion bei Madame Auerbach hatte er zwar bei Donnerstag eingetragen, doch eine Woche später als ausgemacht. Er wusste, er würde nicht in der Lagesein, schon so bald dorthin zu gehen. Wenn sie ihn erst gehört hätte, wäre sie gewiss bereit, ihm diese kleine Ungenauigkeit zu verzeihen.
Dem Auftritt mit Adrian und seinen Freunden indes sah er mit eifriger Ungeduld entgegen. Denn seit zwei Tagen war sein Geld vollends verbraucht, so dass er sich nicht einmal eine trockene Semmel hätte kaufen können, von dem gustiösen Kuchen mit Äpfeln darauf, den er in der vergangenen Woche oftmals zum Frühstück gehabt hatte, ganz zu schweigen. In Piotrs kaltem Vorratsschrank fanden sich nur mehr jene Konservendosen, deren Verschluss er mit großer Vorsicht begegnete, seit er sich damit in den Daumen geschnitten hatte. Und die Nudeln, die zu kochen kinderleicht sei, wie Piotr versichert hatte, würde er gewiss nicht mehr anrühren. Was mochte dieses Herdfeuer, das man nicht sah, alles anrichten? Er hatte versucht, sie in dem heißen Wasser zu garen, das zu jeder Tages- und Nachtzeit aus der Leitung floss. Doch damit ließ sich allenfalls ein kleiner Schwarzer aus Piotrs Zauberkaffeemehl bereiten, die Nudeln wurden nur zu einer widerlichen Pampe, die ihm den Magen verklumpt hatte, als er sich vor Hunger dennoch zum Essen überwunden hatte.
Da an einen Wirtshausbesuch ebenso wenig zu denken war wie an die Oper, blieb Wolfgang zu Hause, aß Dosensuppe und Ölsardinen und zwang sich zur Arbeit. Piotrs kleinen Eßtisch schob er unters Fenster, unter dasjenige, aus dem er sich erleichtert hatte, und wenn er hinausschaute, fiel sein Blick über alte, bucklige Schieferdächer. Sah er nur flüchtig hin, belohnte ihn die Illusion, zu Hause zu sein. Und manchmal, am Abend, vergaß er, dass keine weichen dunklen Locken in den Kissen nebenan auf ihn warteten, und glaubte zuweilen das Greinen eines Kindes zu hören, das sich gegen den Schlaf sträubt. Dann erschrak er und stellte das Mechanikum an, trotzte dem lauten Gift der Einsamkeit, das ihm die Töne aus dem Kopf zu rauben drohte.
So arbeitete er bis in die noch finsteren Morgenstunden. Wenn er schließlich das Licht ausknipste und daran dachte, dass dies die Zeit war, da er früher immer aufzustehen pflegte, wurde ihm der Hals enger. Früher. Mit einem Ruck zog er die
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