Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
Wolfgang vergessen hatte, dass der ihn nicht trug. Wieder einmal wünschte er, nur einen Schritt nach hinten treten zu müssen, um sich, wenigstens für einen Augenblick, in eine Welt zurückziehen zu können, in die er gehörte und die ihn hielte.
Mit beinahe pietätvoller Stimme wandte sich Piotr ihm zu. »Ist Chef von Auerbach-Stiftung. Große Förderer von Musik.« Er seufzte. »Bist du wirklich Esel, przyjaciel!«
»Je nu, so es etwas zu holen gibt, wird es dem Besten schon gelingen. Andernfalls möcht’s mir gestohlen bleiben.« Grinsend griff Wolfgang sich eines der Weingläser, die auf Tabletts herumgereicht wurden. »So man keine gute Eigenschaft mehr bei mir vermutet, will ich auch keine mehr nötig haben.«
Er wandte sich um, pflügte sich einen Weg durch die Menge, dorthin, wo die Orchestermusiker sich versammelt hatten, prostete reihum und betrank sich schließlich mit dem Dirigenten, nannte ihn zu später Stunde Gregor, versprach ihm ein paar Streichkonzerte und nahm seine Einladung, die Truppe zu einer Konzertreise auf einem Schwarzmeerdampfer zu begleiten, wein- und leutselig an.
Als er am nächsten Morgen mit schwerem Haupt erwachte, saß Piotr bereits mit seinem Kaffeebecher am Tisch. Doch statt der erwarteten Standpauke hob Piotr mit selbstzufriedener Miene eine Zeitung in die Höhe.
»Schreiben sie zwei Zeilen über Geld, was hat Konzert gebracht für Blindenheim, eine Satz über Orchester, aber sieben Zeilen über neue Entdeckung von phantastische Pianist Wolfgang Mustermann!«
***
»A Zigaretten? Bittschön, hoam’s a Zigaretten? A paar Cent, bittschön?«
Anju sah auf und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Hoppla, Verzeihung …« Rasch wandte der Penner sich ab und trollte sich.
Anju kramte nach einem Taschentuch. Sie musste fürchterlich ausschauen, wenn sogar die U-Bahn-Penner sich taktvoll verzogen.
Ob Enno und Jost schon daheim waren? Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Anzeigetafel. Nicht einmal an dem Ort, den sie Zuhause nannte, konnte sie sich ungestört ausweinen. Der Gedanke, dass es nun auch mit der neuen Wohnung nichts würde, trieb ihr erneut das Wasser in die Augen. Sie hatte sich alles so schön vorgestellt – ein kleines Apartment, ganz für sich allein, ohne die beiden Jungs und deren Kumpane, die ständig in der WG aus- und eingingen und das Wort Privatsphäre nicht zu kennen schienen.
Hör auf zu heulen, wies sie sich in Gedanken zurecht. Es war ihr schließlich von vorneherein bewusst gewesen, dass ihre Arbeit mit dem Wort Sicherheit unvereinbar war. Für jene Art Forschungsprojekte, auf die sie sich als Biologin spezialisiert hatte, gab es kaum Geld; sie wurden stets nur befristet bewilligt, und was danach kam, stand jeweils in den Sternen. Aber dieses Mal waren alle zuversichtlich gewesen, selbst ihre Professorin, die sich als Projektleiterin seit Jahren um die Fortführung der Untersuchungen bemüht hatte. Noch wenige Wochen und Anju würde wieder einmal ohne Arbeit dastehen und letztlich froh sein über das billige Zimmer. Vergeblich versuchte Anju, den Tränenschleier fortzublinzeln, und betrat die Rolltreppe.
Und nun? Immerhin würde sie Zeit haben, Zeit, endlich an der Publikation zu arbeiten, die sie seit Monaten aufschob. Ihre Gedanken wanderten zu den Präparaten,die sie seit ihrer letzten Indienreise im Regal verwahrte, und ehe sie bemerkte, dass sie das Ende der Treppe erreicht hatte, stockte ihr Fuß an der Kante, und Anju verlor das Gleichgewicht, versuchte sich am Handlauf abzustützen, griff ins Leere. Sie verfluchte ihre hohen Schuhe und spürte im Fall, wie sie um Arm und Taille gepackt und aufgefangen wurde.
Es war der anziehende Körpergeruch, von einem angenehmen Hauch Rasierwasser betont, der ihr für einen Moment das Gefühl gab, einem Vertrauten zu begegnen. Als die fremde Hand kurz über ihren Rücken fuhr, wie um Trost zu spenden, verspürte sie den Impuls, sich noch einmal fallen und auffangen zu lassen.
Rasch brachte sie ihr »Danke« hervor, rappelte sich hoch, zog ihren Rock zurecht und schaute auf. Sofort erschrak sie: Vor ihr leuchteten die wunderbaren wassertiefen Augen jenes Musikers, den sie unlängst aus ihrem Zimmer geworfen hatte.
***
Die Vogelfrau! Mit unvermittelt klopfendem Herzen sah Wolfgang ihr hinterher, ihr, die sich mit erschrockenem Lächeln jäh von ihm abgewandt hatte und zur Hütteldorfer Linie gehastet war. Tatsächlich hatte sie sich noch einmal umgedreht und ihn, trotz ihres offensichtlichen
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