Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
durch verblichene Plastikfransen von der Straße getrennt. Mit scheppernden Lautsprechern hatte der Besitzer versucht, das Getöse der Kühe, Kinder und Motorräder in der staubigen Straße zu übertönen. Anju hatte im Geschäft nebenan nach Seidentüchern gestöbert und die Musik gehört, war gleich hinübergelaufen, um die offensichtlich im Hinterzimmer des Ladens selbstgebrannte CD zu erstehen, und hatte seitdem alle ihre Sehnsüchte hineingeparkt.
Wolfgang saß gegen die Wand gelehnt auf seinem Kissen. »Was hörst du?«
Sie nannte den Titel der CD. »Das bedeutet
Zeit der Fülle
.«
»Und was
hörst
du?«, wiederholte er. Seine Stimme klang weich.
Mein Herz, wie es schlägt, dachte Anju. »Den Regen«, antwortete sie. »Warmen Regen. Und die Freude darüber.«
»Siehst du. Du bist nichts weniger als unmusikalisch. Die Musik wohnt in deinem Herzen.«
Anju sah ihn überrascht an. Was für ein Mann war das, der ihr solche Dinge sagte? Sie stellte ihre Tasse ab und stützte die Hand wie zufällig neben die seine. Er wich zurück. Der Klang der Sitar füllte den Raum und das Schweigen.
Zögernd schickte sie ihm ein zaghaftes Lächeln. Sein Blick drang in sie, klar wie der indische Frühlingshimmel, ihr Puls ging immer schneller, und sie musste zu Boden schauen, um nicht schwindlig zu werden.
»Welcher Natur ist deine Arbeit, Anju? Woran hängt dein Herz?«
Sie schluckte, zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. »An Arctosa indica. Oder besser gesagt, an einer ihrer Verwandten.« Amüsiert registrierte sie seinen fragendenGesichtsausdruck, stand auf und stellte den Objektkasten auf dem Fußboden ab.
»Huch!« Mustermann fuhr zurück. »Lebt sie noch?«
»Nein.« Anju kannte niemanden, der sich nicht vor einer Wolfspinne grauste, Kollegen ausgenommen. »Schau hin.« Sie reichte ihm das Vergrößerungsglas. »Siehst du, wie schön ihre Haare gezeichnet sind?«
»Du bist eine Forscherin!« Während Anju sich fragte, ob das eine Frage oder eine Feststellung gewesen war, beugte Mustermann sich mit spitzen Lippen über das Präparat und blickte durch die Lupe, zögernd erst, lehnte sich dann immer weiter hinunter und betrachtete das Tier von allen Seiten. »Grundgütiger Herr im Himmel!«, rief er. »Wie hässlich nimmt sich doch meine Nase aus gegen dieses Geschöpf.«
Anju musste lachen. »Das liegt daran, dass man deine Nase weniger leicht übersehen kann als so ein Kerlchen.« So hässlich ist sie gar nicht, dachte sie.
»Sind alle kleinen Krabbeltierchen derart schön?«
»Ja. Vor allem, wenn man sie mit Liebe betrachtet.« Anju strich behutsam über den gläsernen Sarg. »Ich könnte dir ganz wundervolle zeigen …« Unwillkürlich senkte sie die Stimme. »Wenn du magst. Ich meine, im Naturhistorischen Museum, wir könnten … also vielleicht am Wochenende, ich habe dort einmal gearbeitet und …«
Aus der Küche drang Gepolter. Josts Stimme fluchte. Mustermanns Blick erstarrte, dann grinste er. »Mein liebster, bester Jost! Er wird gewiss hocherfreut sein über meinen Besuch.«
Anju erschrak. Sicher platzte Jost gleich ins Zimmer, um eine dumme Bemerkung wegen des Mülleimers zu machen, und sie musste erklären, warum Wolfgang Mustermann ausgerechnet in ihrem Zimmer saß und Tee trank, nachdem sie Enno und Jost angedroht hatte, ihnen Bettwanzen und Flöhe ins Zimmer zu schaffen, wenn sie nocheinmal einen solchen Penner ins Haus und in ihr Zimmer brächten. Sie warf Mustermann einen Seitenblick zu. Ja, tatsächlich, Penner hatte sie gesagt und nun beinahe das Gefühl, ihn dafür um Verzeihung bitten zu müssen. Anju legte einen Finger auf den Mund, schlüpfte in den Korridor und schloss die Tür hinter sich.
»Stell nächstens ein Schild auf, wenn du Hürdenlaufen spielen willst!« Jost kauerte auf dem Küchenboden und schaufelte leere Joghurtbecher, klebrige Eierschalen und Kaffeesatz in den umgekippten roten Eimer.
»Igitt, warte, ich helfe dir.«
»Verschwinde, ich kann das allein!«
»Na gut.« Anju huschte auf leisen Sohlen zu ihrem Zimmer zurück.
Die Tür stand offen. Wolfgang Mustermann war fort.
***
»Wolfgang! Kannst du zuhören endlich, Wolfgang!« Piotrs Stimme und der Geigenbogen an seiner Schulter rissen Wolfgang aus den Gedanken wie aus einem tiefen, warmen Schlaf.
»Hörst du überhaupt nicht, wenn ich rede, hast du Tomaten auf Ohren!«
»Ah, gewiss, das wird es sein – warte – aaah …« Wolfgang steckte seinen Zeigefinger ins Ohr, neigte den Kopf zur Seite,
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