Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
orangerotes Heft liegen sah. Augenblicklich tat sein Herz einen kleinen Sprung: die Violinschule seines Vaters! Er blätterte, staunte, strich liebevoll über die Seiten – nichts war daran verändert worden, obwohl jene Gedanken so alt waren wie er selbst. Er musste unwillkürlich lächeln. Das musste er Piotr schenken! Froh schlenderte er weiter, hin zu den Biographien, und ließ den Finger über die Buchreihen gleiten, bis sein Blick hängenblieb.
Constanze Mozart
. Er erschrak. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er ein ausgestopftes, längst verstaubtes Tier berührt und es hätte ihm unversehens zugezwinkert!
Wolfgang sah sich verstohlen um, griff zaudernd nach dem kleinen blassrosa Bändchen und begann zu blättern. Als er die Seiten überflog, bemerkte er, wie seine Hände zitterten, klappte das Buch entschlossen zu und ging zur Kassa.
Sein Abendengagement mit Piotr durfte er nicht versäumen, und ohnedies hatte er versprochen, vorher noch Brot zu besorgen. Der Regen hatte aufgehört. Mit zusammengezogenen Schultern trat er aus der Buchhandlung auf die Straße hinaus, las im Gehen, bis er zum Grinsesemmelbäcker kam, hätte ums Haar seine Rabattkarte vergessen und sank, noch immer in das Büchlein vertieft, auf den blaubunten Polstersitz der U-Bahn. Als er vor der Haustür stand, war er bereits auf Seite sechzehn angekommen, klemmte einen Finger als Lesezeichen zwischen die Seiten und zog mit der anderen Hand den Schlüssel aus seiner Hose. Mehrere zerknüllte Papiertaschentücher, ein ebenso verknäulter Fünf-Euro-Schein und das Grinsesemmelkärtchen regneten in eine trübbraune Pfütze.
»Dreck, dummer! Machst nix wie Kummer! Friss Hummer!« Wolfgang bückte sich, stopfte den Schein in seine Tasche zurück, hob das Grinsesemmelkärtchen auf undbeobachtete, wie die Schmutzperlen darauf in winzigen Rinnsalen zum Rand wanderten.
»Solltest du besser drauf aufpassen«
, klang Ennos Stimme wie ein Echo durch seine Erinnerung.
Das war es! Jetzt fiel ihm ein, wann er schon einmal einen Ausweis in der Hand gehabt hatte: Es war vor Ennos Tür gewesen, damals, an seinem ersten Tag. Enno hatte, genau wie er selbst gerade, ein Kärtchen aus dem Schlamm gefischt, es betrachtet und war dann davon ausgegangen, dass es Wolfgang gehöre. Also musste das Bild darauf einen Mann gezeigt haben; einen, der ihm zumindest ähnelte. Reflexartig griff Wolfgang nach seiner Hosentasche, in die er es damals gesteckt hatte. »Esel!«, schimpfte er sich. Natürlich trug er längst andere Kleidung. Doch in der Erinnerung fühlte er über den labbrigen Stoff der dunkelblauen Hose, die Enno ihm seinerzeit überlassen hatte. Wo war sie geblieben? Atemlos schloss er die Haustür auf und rannte die Stiegen nach oben, stürmte in die Wohnung und riss seine Schublade auf. Wühlte in den Kleidungsstücken. Nichts. Nachdenklich schloss er die noch immer offen stehende Wohnungstür. Was war nur aus der Hose geworden? Ob Piotr sie weggeworfen hatte? Wo der Geiger nur steckte? In der Spüle stand Piotrs Henkeltasse mit einem nassen Teebeutel darin. Plötzlich erinnerte Wolfgang sich: Er hatte Ennos Sachen sämtlichst zurückgebracht und sie der Vogelfrau überreicht, bevor sie ihm die Türe gewiesen hatte.
Mit einem Seufzer sank er auf einen Küchenstuhl, schloss die Augen. Die Vogelfrau. Die Erinnerung an ihren geschmeidigen Körper fuhr ihm in den Leib. Für die Dauer eines Herzschlags hatte sie sich an ihm festgeklammert wie ein Insekt an einer windschwankenden Blume. Und dann der Schreck, als sie sich erkannt hatten. Obwohl er sich geschworen hatte, auf ein Zeichen von ihr zu warten, spürte er, dass bei der Aussicht, seinen Ausweis just an jenem Ortsuchen zu müssen, ein kleiner Nachtfalter begann, quirlige Bahnen quer durch seine Brust zu ziehen.
***
Behutsam stellte Anju den flachen Objektkasten auf dem Schreibtisch ab. Er stand schon viel zu lange im Regal. Sie betrachtete verzagt die beiden Spinnen und die entsprechende Exuvie, die sie von ihrer letzten Indienreise mitgebracht hatte.
Gerade als sie sich nach dem Binokular bücken wollte, klingelte es an der Wohnungstür. Anju sah zur Uhr, vermutlich der Paketdienst. Sie trat in den Korridor hinaus, betätigte den Summer, öffnete die Tür und hob einen Packen greller Baumarkt-Werbeblätter auf, die auf dem Fußabtreter lagen. Der Mülleimer in der Küche quoll über, Anju stopfte das bunte Papier hinein und ließ die Tonne demonstrativ mitten im Raum stehen. Sollte Jost doch
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