Herr Palomar
Hochzeitsritual, und ihr Meeresruf schrillt durch den Lärm der Stadt.
Die Terrasse ist zweistufig, eine Art Altan oder Aussichtsplattform überragt das Gewirr der Dächer, über das Herr Palomar einen Vogelblick gleiten läßt. Er versucht, sich die Welt so zu denken, wie sie von fliegenden Wesen gesehen wird. Zwar tut sich unter den Vögeln, anders als unter ihm, die Leere auf, aber vielleicht schauen sie nie hinunter, sondern blicken immer nur seitwärts, wenn sie sich schräg auf den Flügeln wiegen, und ihr Blick trifft genau wie der seine, wohin er sich wendet, nur immer auf höhere oder niedere Dächer, mehr oder weniger hohe Bauten, die aber so dicht stehen, daß sie kein Tieferblicken erlauben. Daß dort unten eingezwängt in der Tiefe Straßen und Plätze existieren, daß der wahre Boden erst jener auf Bodenhöhe ist, weiß Herr Palomar aufgrund anderer Erfahrungen. Jetzt in diesem Moment, angesichts dessen, was er von hier oben sieht, könnte er es nicht ahnen.
Die wahre Form der Stadt erweist sich in diesem Auf und Ab von Dächern, alten und neuen Ziegeln, Hohl- und Flachpfannen, schlanken oder gedrungenen Kaminen, Lauben aus Schilfrohr oder mit welligen Eternitüberdachungen, Brüstungen, Balustraden, kleinen Pfeilern mit Vasen darauf, erhöhten Wasserbehältern aus Wellblech, Luken, Mansarden, gläsernen Oberlichtern, und über allem die Takelage der Fernsehantennen, krumm oder gerade, blank oder rostig, Modelle verschiedener Generationen, vielfach verzweigt und gehörnt und beschirmt, doch alle dürr wie Skelette und dräuend wie Totempfähle. Getrennt durch unregelmäßig gezackte Buchten von Leere belauern einander proletarische Dachterrassen mit Wäscheleinen voll bunter Wäsche und Tomatenstöcken in Zinkwannen, herrschaftliche Terrassen mit Kletterpflanzenspalieren auf Holzgerüsten und weißlackierten Gartenmöbeln aus Gußeisen unter einrollbaren Markisen, Glockentürme mit Glockengeläut in der Glockenstube, Giebelfronten öffentlicher Gebäude in Frontalansicht oder im Profil, Gesimse, Zierfassaden und Zinnen, Attiken mit Figurenaufsatz, gesetzwidrige, aber nicht strafbare Aufbauten, Stahlrohrgerüste von laufenden oder halbfertig abgebrochenen Bauarbeiten, breite Salonfenster mit Gardinen und schmale Klofenster, ocker- und sienafarbene Mauern, schimmlige Mauern, aus deren Ritzen Grasbüschel wachsen mit hängenden Halmen, klobige Fahrstuhltürme, gotische Kirchentürme mit durchbrochenen Doppel- und Dreibogenfenstern, nadelspitze Fialen auf Strebepfeilern mit Madonnen darauf, Pferdestatuen und Quadrigen, Dachbehausungen, die zu Schuppen verfallen sind, Schuppen, die zu Maisonetten ausgebaut Wurden – und überall wölben sich Kuppeln zum Himmel, in jeder Richtung und jeder Entfernung, wie um die Weiblichkeit, das junonische Wesen der Stadt zu bekräftigen: Kuppeln in Weiß oder Rosa oder auch Violett, je nach der Tageszeit und dem Licht, geädert mit feinem Rippenwerk und gekrönt mit Laternen, auf denen sich wiederum kleinere Kuppeln erheben.
Nichts von alledem ist zu sehen für jene, die sich zu Fuß oder auf Rädern über das Straßenpflaster bewegen. Dafür hat man umgekehrt von hier oben den Eindruck, dies sei die wahre Kruste der Erde, uneben, aber kompakt, wenn auch zerfurcht von Spalten, deren Tiefe man nicht erkennt, von Rissen und Gräben und Kratern, deren Ränder im perspektivischen Blick zusammengerückt erscheinen wie Schuppen an einem Tannenzapfen, und man kommt gar nicht auf die Idee sich zu fragen, was sie auf ihrem Grunde verbergen, da schon die Ansicht der Oberfläche so unendlich reich und vielfältig ist, daß sie vollauf genügt, den Geist mit Informationen und Signifikaten zu füllen.
So räsonieren die Vögel, oder so jedenfalls räsoniert, sich als Vogel imaginierend, Herr Palomar. Erst wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat – schließt er –, kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich.
Der Bauch des Gecko
Wie jeden Sommer ist auf der Terrasse auch wieder der Gecko. Dank einer außergewöhnlich guten Beobachterposition sieht ihn Herr Palomar nicht von oben, wie wir seit jeher Geckos, Eidechsen und Salamander zu sehen gewohnt sind, sondern von unten. Im Wohnzimmer der Familie Palomar gibt es ein kleines Vitrinenfenster, das zur Terrasse geht und auf seinen Borden eine Sammlung von Jugendstilvasen beherbergt; abends beleuchtet eine 75-Watt-Lampe die
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