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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Präsenzen.
     Eigentlich ein beruhigender Anblick, das Erscheinen der Zugvögel, in unserem Urgedächtnis verbindet es sich mit dem Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Doch in Herrn Palomar weckt es ein vages Gefühl von Beklommenheit. Vielleicht weil diese plötzliche Überfüllung des Himmels uns daran erinnert, daß die Natur aus dem Gleichgewicht ist? Oder weil unser Unsicherheitsgefühl überall Vorzeichen von Katastrophen sieht?
     Wenn man an Zugvögel denkt, stellt man sich für gewöhnlich eine wohlgeordnete und kompakte Flugformation vor, die den Himmel als breite Front oder langgezogene Phalanx mit spitzem Winkel durchpflügt, fast eine aus zahllosen Vögeln gebildete Vogelform. Doch dieses Bild gilt nicht für die Stare, jedenfalls nicht für diese Stare am herbstlichen Himmel Roms: Sie bilden eine dichte Masse, die sich in der Luft zu zerstreuen und aufzulösen scheint wie Pulver in einer Flüssigkeit, statt dessen sich aber ständig weiter verdichtet, als würden ihr aus einer unsichtbaren Rohrleitung permanent neue wirbelnde Teilchen zugeführt, ohne die Lösung jemals zu sättigen.
     Die Wolke wird breiter, schwarzgepunktet von Flügeln, die sich jetzt klarer vom Himmel abheben, ein Zeichen dafür, daß sie näherkommen. Herr Palomar kann im Innern des Schwarms bereits eine Perspektive erkennen, denn einige Vögel sieht er schon ganz nah über seinem Kopf fliegen, andere ferner, andere noch ferner, und ständig entdeckt er weitere, kleiner und kleiner werdende Punkte, über Kilometer und Kilometer, wie es scheint, und man wäre geneigt, den Distanzen vom einen zum anderen ein nahezu gleiches Maß zuzuschreiben. Doch diese Illusion von Regelmäßigkeit ist verräterisch, denn nichts ist schwerer zu schätzen als die Verteilungsdichte von Vögeln im Flug: Wo die Kompaktheit des Schwarms beinahe den Himmel verdunkelt, entdeckt man auf einmal, daß zwischen Vogel und Vogel leere Abgründe klaffen.
     Verweilt er ein paar Minuten dabei, die Disposition der Vögel im einzelnen zu verfolgen, Star um Star im Bezug zueinander, so fühlt Herr Palomar sich in ein Netz einbezogen, das kontinuierlich und lückenlos immer weitergeht, als würde er selber zu einem Teil dieses sich bewegenden Körpers, der aus Hunderten und Aberhunderten einzelner Körper besteht, die zusammen ein Ganzes bilden wie eine Wolke oder Rauchsäule oder ein Wasserstrahl, also etwas, das trotz aller Flüssigkeit in der Substanz eine Solidität in der Form erreicht. Doch er braucht nur einen einzelnen Star mit dem Blick zu verfolgen, und schon gewinnt die Dissoziation der Teile wieder die Oberhand, und die Strömung, die ihn zu tragen, oder das Netz, das ihn zu halten schien, lösen sich auf, und der Effekt ist ein Schwindelgefühl im Magen.
     So zum Beispiel, wenn Herr Palomar, nachdem er sich überzeugt hat, daß der Schwarm direkt auf ihn zufliegt, den Blick auf einen einzelnen Vogel richtet, der sich statt dessen entfernt, und von diesem auf einen anderen, der sich gleichfalls entfernt, aber in eine andere Richtung, und auf einmal merkt er, daß alle Vögel, die scheinbar näherkommen, in Wirklichkeit überallhin davonfliegen, als befände er sich im Zentrum einer Explosion. Doch er braucht nur den Blick in eine andere Himmelsgegend zu richten, und schon konzentrieren die Vögel sich wieder zu einem immer dichteren und kompakteren Strudel, wie Eisenspäne auf einem Papier mit einem Magneten darunter, der sie anzieht und zu kreisenden Mustern ordnet, die bald dunkler, bald heller werden und sich am Ende auflösen, um nur disparate Fragmente auf dem weißen Papier zu lassen.
     Schließlich bildet sich eine Form in dem wirren Geflatter, kommt näher, verdichtet sich: eine runde Form, ein Kreis oder eine Kugel, eine Blase, das Blasenrund eines Comic-Zeichners, der an einen Himmel voller Vögel denkt, eine Lawine aus flatternden Flügeln, die durch die Luft rollt und sich alle Vögel im Umkreis einverleibt. In der Gleichförmigkeit des umgebenden Raumes bildet sie einen Sonderraum, einen sich bewegenden Hohlraum, in dessen Grenzen – die sich ausdehnen und zusammenziehen wie eine elastische Oberfläche – die Stare weiterhin kreuz und quer umherfliegen können, solange sie nicht die Kugelform des Ganzen entstellen.
     Nach einer Weile bemerkt Herr Palomar, daß die Zahl der wirbelnden Wesen im Innern der Kugel rasch zunimmt, als strömten, zügig wie der Sandstrom in einer Sanduhr, neue Kräfte herein. Es ist eine weitere Vogelschar, die

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