Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
für ihn, der kurzsichtig ist, mit Brille, und da er die Brille zum Lesen der Karte abnehmen muß, kompliziert sich die Operation durch das ständige Hoch-  und Niederschieben der Brille auf seiner Stirn und impliziert außerdem, daß er immer erst ein paar Sekunden warten muß, bis seine Augen die Sterne am Himmel oder auf der Karte wieder scharf erfassen. Auf der Karte stehen die Namen der Sterne schwarz auf blauem Grund, so daß er die Lampe ganz nah ans Blatt halten muß, um sie zu erkennen. Schaut er dann wieder zum Himmel hinauf, so sieht er ihn schwarz, übersät mit vagem Geflimmer; erst nach und nach erkennt er einzelne Sterne, die sich zu klaren Sternbildern ordnen, und je länger er schaut, desto mehr sieht er auftauchen.
     Hinzu kommt, daß es zwei Himmelskarten sind, die er konsultieren muß, oder genauer vier: eine sehr allgemeine des Himmels in jenem Monat, die den nördlichen und den südlichen Teil getrennt voneinander zeigt, und eine sehr viel detailliertere des ganzen Firmaments, die in einem langgezogenen Streifen die Konstellationen des ganzen Jahres für den mittleren Teil des Himmels rings um den Horizont aufführt, während die Sterne der Kuppel rings um den Polarstern in einer beigefügten runden Karte dargestellt sind. Kurzum, das Lokalisieren eines Sterns verlangt jeweils den Vergleich der verschiedenen Karten mit dem Himmelsgewölbe samt allen dazugehörigen Handlungen wie Auf-  und Absetzen der Brille, An-  und Ausknipsen der Lampe, Auseinander-  und Zusammenfalten der großen Karte, Verlieren und Wiederfinden der Orientierungspunkte.
     Seit Herr Palomar das letzte Mal die Sterne betrachtet hat, sind Wochen vergangen, wenn nicht Monate. Alles am Himmel hat sich verändert: Der Große Bär (wir haben August) reicht fast hinunter bis zu den Wipfeln der Bäume im Nordwesten. Arkturus versinkt hinter der Silhouette des Hügels und zieht den ganzen Bootes-Drachen mit sich hinab. Genau im Westen steht Wega, hoch und allein. Wenn jener Stern dort die Wega ist, dann ist dieser über dem Meer der Atair, und oben steht Deneb kaltglänzend im Zenit.
     Heute nacht scheint der Himmel noch viel überfüllter zu sein als jede Karte. Die schematisierten Konfigurationen erweisen sich in der Realität als viel komplexer und verworrener: Jeder Sternhaufen könnte das Dreieck oder die unterbrochene Linie enthalten, die man gerade sucht, und jedesmal, wenn man die Augen erneut von der Karte zu einem Sternbild hebt, kommt es einem ein bißchen anders vor.
     Um ein Sternbild zu erkennen, prüf man am besten, wie es auf seinen Namen reagiert. Überzeugender als die Übereinstimmung der Distanzen und Konfigurationen am Himmel mit denen auf der Karte ist nämlich die Antwort, die der leuchtende Punkt auf den Namen gibt, mit dem er benannt worden ist: seine prompte Bereitschaf, sich mit dem Klang zu identifizieren und mit ihm eins zu werden. Die Namen der Sterne mögen für uns, die wir jegliche Mythologie verloren haben, noch so unpassend und willkürlich klingen, wir würden niemals auf den Gedanken kommen, sie für austauschbar zu halten. Wenn der Name, den Herr Palomar für einen Stern gefunden hat, der richtige ist, merkt er es gleich, denn der Stern bekommt durch ihn eine Notwendigkeit und Evidenz, die er zuvor nicht hatte. Ist es jedoch ein falscher Name, so hat ihn der Stern schon ein paar Sekunden später verloren, als hätte er ihn von sich abgeschüttelt, und man weiß nicht mehr, wer und wo er war.
     Mehrmals beschließt Herr Palomar, das Haar der Berenike (ein Sternbild, das er besonders liebt) sei dieser oder jener Lichterschwarm im Gebiet des Schlangenträgers, doch er verspürt nichts von der Erregung, die ihn früher beim Wiedererkennen dieses so prächtigen und dabei so zarten Gebildes erfaßte. Erst später wird ihm klar, daß er es deshalb nicht finden kann, weil das Haar der Berenike in dieser Jahreszeit nicht zu sehen ist.
     Ein Großteil des Himmels ist von hellen Streifen und Flecken durchzogen, die Milchstraße hat im August eine Konsistenz von so großer Dichte, daß es fast scheint, als träte sie über die Ufer. Hell und Dunkel sind dermaßen miteinander vermengt, daß der perspektivische Eindruck eines schwarzen Abgrunds, vor dessen leerer Tiefe die Sterne sich abheben, gar nicht erst aufkommt. Alles bleibt auf der gleichen Ebene: funkelndes Blitzen und silbrige Nebel und tiefe Finsternis.
     Ist dies die exakte Geometrie, zu welcher Zuflucht zu
     nehmen Herr Palomar so of

Weitere Kostenlose Bücher