Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
Objekte. Eine Strandnelkenpflanze läßt ihre blaugrünen Zweige außen von der Terrassen mauer über die Scheibe hängen. Jeden Abend, wenn das Licht angeht, kommt der Gecko, der unter dem Blattwerk an jener Mauer wohnt, in den Lichtkegel auf die Scheibe gekrochen und verharrt dort reglos wie eine Eidechse in der Sonne. Fliegen und Mücken schwirren vorbei, gleichfalls vom Licht angezogen. Kommt eine davon in die Reichweite des Reptils, wird sie verschluckt.
     Jeden Abend rücken Herr und Frau Palomar ihre Sessel schließlich vom Fernseher vor das Fenster: Aus dem Innern des Zimmers betrachten sie, stumm und versunken, die bleiche Gestalt vor dem dunklen Hintergrund. Nicht immer erfolgt die Wahl zwischen Gecko und Fernsehen ohne Zögern, denn jedes der beiden Schauspiele bietet Informationen, die dem anderen nicht zu entnehmen sind: Das Fernsehen streif durch die Kontinente auf der Suche nach Lichtimpulsen, die das sichtbare Antlitz der Dinge beschreiben, während der Gecko die reglose Konzentration sowie das Verborgene darstellt, die Kehrseite dessen, was sich dem Blick offenbart.
     Am eindrucksvollsten sind seine Füße: richtige kleine Händchen mit weichen Fingerchen ganz aus Kuppen, die, an die Scheibe gepreßt, mit winzigen Saugnäpfchen an ihr haften. Die fünf kleinen Fingerchen spreizen sich wie Blütenblätter in einer Kinderzeichnung, und wenn sich ein Beinchen bewegt, schließen sie sich wie eine Blume am Abend, um sich dann wieder zu öffnen und an die Scheibe zu pressen, wobei sie winzige Rillenmuster zeigen, ähnlich denen von Fingerabdrücken. Zart und kraftvoll zugleich, scheinen diese Händchen eine potentielle Intelligenz zu besitzen, so daß man fast meinen möchte, sie brauchten sich nur noch von der Aufgabe zu befreien, an der senkrechten Fläche klebenzubleiben, um die Fertigkeiten der menschlichen Hand zu erwerben, die ja, wie es heißt, in dem Moment geschickt zu werden begann, als sie nicht mehr Zweige umklammern oder die Erde berühren mußte.
     Die gekrümmten Beinchen scheinen nicht nur ganz Knie, ganz Ellenbogen zu sein, sondern geradezu federnde Stützen des Rumpfes. Der Schwanz berührt die Scheibe nur mit einem schmalen Mittelstreifen, von dem die Ringe ausgehen, die ihn auf beiden Seiten umfassen und zu einem starken, gut gepanzerten Instrument machen. Meistens träge und teilnahmslos daliegend, scheint er kein anderes Bestreben oder Talent zu haben, als ergänzende Stütze zu sein (kein Vergleich zur grazilen Beweglichkeit eines Eidechsenschwanzes), doch bei Bedarf erweist er sich als reaktionsschnell und wohlgegliedert, ja ausdrucksvoll.
     Vom Kopf sieht man nur die weite vibrierende Kehle und die seitlich vorstehenden lidlosen Augen. Die Kehle ist ein länglicher schlaffer Sack, der sich von der Spitze des Kinns, das hart und schuppig ist wie bei einem Krokodil, bis zum weißlichen Bauch hinunter erstreckt, der dort, wo er sich auf die Scheibe drückt, ebenfalls eine körnige und vielleicht haftende Sprenkelung aufweist.
     Kommt ein Insekt in die Nähe der Kehle, so schießt die Zunge hervor und verschlingt es. Blitzschnell ist diese Zunge, geschmeidig und zupackend, formlos und fähig, jede Form anzunehmen. Allerdings ist sich Herr Palomar nie ganz sicher, ob er sie wirklich gesehen hat oder nicht. Was er jetzt mit Sicherheit sieht, ist das Insekt in der Kehle des Gecko, denn dessen an die beleuchtete Scheibe gepreßter Leib ist durchscheinend wie auf dem Röntgenschirm, so daß man den Schatten der Beute auf ihrem Weg durch die Eingeweide, die sie allmählich zersetzen, verfolgen kann.
     Wenn alle Materie durchscheinend wäre, der Boden, der uns trägt, und die Hülle, die unsere Körper umgibt, so erschiene uns alles – sinniert Herr Palomar – nicht wie ein Wehen hauchdünner Schleier, sondern wie eine Hölle unaufhörlich zermalmender und verschlingender Rachen. Vielleicht beobachtet uns in diesem Moment ein Gott der Unterwelt aus dem Innern der Erde, verfolgt mit seinem granitdurchdringenden Blick des Kreislauf des Lebens und Sterbens, den Weg der zerstückelten Opfer, die sich in den Mägen ihrer Verschlinger zersetzen, bis diese ihrerseits von einem anderen Rachen verschlungen werden.
     Der Gecko bleibt stundenlang reglos sitzen, nur seine Zunge schnellt immer wieder wie eine Peitsche hervor, um sich eine Fliege oder Mücke zu schnappen. Andere Insekten hingegen, mögen sie auch genauso aussehen und sich arglos wenige Millimeter vor seinem Maul niederlassen,

Weitere Kostenlose Bücher