Herr Tourette und ich
an den Tresen. Es ist lange nicht passiert, dass sich jemand freiwillig neben mich stellt und eine Wurst isst. Diesem Mann scheint mein Gestank egal zu sein, vielleicht hat er den Geruchssinn verloren. Wir fangen an, über dies und das zu reden, und vor allem über das: Synthiemusik. Er behauptet, vor einigen Monaten im Plattenladen gewesen zu sein, um die Neueste von Toto als Geschenk für seine Freundin zu kaufen. Er wusste, was er haben wollte, hatte aber nicht damit gerechnet, den Laden mit einer Sammel- LP mit Synthie-Pop zu verlassen. Er behauptet, ich hätte ihn überredet und es sei mein Verdienst, dass seine Freundin angefangen habe, Synthie-Pop zu mögen, was wiederum gut für ihre Beziehung gewesen sei. Ich erinnere mich kein bisschen an die Geschichte, nicke aber: »Ja, jetzt, wo du es sagst.«
Er arbeitet als Redakteur bei Radio O, einem studentenanarchistischen Lokalsender. Er kennt auch meinen Hintergrund von Radio Nova über einen in der Redaktion, der einen kennt, der mit einem bekannt war, der dieselbe Tontechnikerausbildung gemacht hat wie ich. Aber er weiß nicht, wie ich heiße, also antworte ich – Zucken im Bauch – »Kristinus Bergmann.«
Ich kann nicht erklären, warum ich einen neuen Namen erfinde, warum ich mich ausgerechnet Kristinus Bergmann nenne. Zwar hatte ich den Ehrgeiz, den Roman Kristinus Bergmann von Arthur Omre zu lesen, ehe ich anfing, in der Bäckerei zu arbeiten, und ehe die Zwänge mein Leben übernahmen. Ich habe nur ein paar Seiten gelesen, aber seither hat sich der Name eingeprägt. Ich mag ihn einfach, deshalb muss es Kristinus Bergmann sein, so einfach ist das.
»Ob ich mir vorstellen könnte, als freier Mitarbeiter in der Nachtredaktion zu arbeiten?«, wiederhole ich.
»Nur, wenn du es dir vorstellen kannst.«
»Doch … das kann ich mir vorstellen.«
Am nächsten Tag brauche ich ungefähr zweieinhalb Stunden, die Türschwelle zu den Redaktionsräumen von Radio O zu überqueren. Endlich drin, bleibe ich stehen. Obwohl sie dreimal ihr »Setz dich doch« wiederholen, ziehe ich es vor, das Bewerbungsgespräch im Stehen zu absolvieren. Die Gefahr, dass ich für einige Stunden auf dem Stuhl ritualfixiert sein könnte, ist groß. Aber sie hinterfragen meine Entscheidung nicht, sie hinterfragen überhaupt keinen meiner physischen Tics, sie scheinen überhaupt nichts zu hinterfragen, sondern fragen nur:
»Hast du Rundfunkerfahrung?«
»Ja.«
»Hast du Musikerfahrung?«
»Doch.«
»Hast du Lebenserfahrung?«
»Tja.«
»Hast du Studiotechnikerfahrung?«
»Durchaus.«
»Hast du Anarchistenerfahrung?«
»Jeden Sonntag.«
»Hast du einen festen Job?«
»Kann jederzeit kündigen.«
»Hast du eine Wohnung?«
»Kann jederzeit umziehen.«
»Hast du Zeit?«
»Kommt auf die Prioritäten an.«
»Hast du ein Auto?«
»Einen Chrysler 300C.«
»Einen Ami …?«
»Ja, aber …«
»Kannst du für siebzehn Kronen die Stunde schwarz arbeiten?«
»Geld spielt keine Rolle.«
»Willst du den Job?«
»Wenn der Job mich will.«
Alle lachen, ich auch und zähle gleichzeitig schnell und im Stillen und effektiv: eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier.
Der Job ist mein.
Meine Aufgaben:
Zwei Stunden lang, von eins bis drei in der Nacht, allein dasitzen und aggressiven Synthie-Rock für alternative Menschen spielen. Das Programm heißt Alternativ Elektrisch . Dank meiner früheren Erfahrungen mit Tontechnik und Rundfunkarbeit zusammen mit Ben beherrsche ich das Studio ohne größere Probleme. Das heißt, dass ich ins Mikrofon sprechen und die Technik gleichzeitig bedienen kann. Das betrachtet die Redaktion als einen großen Vorteil, denn so arbeite ich für zwei, werde für einen bezahlt, und somit hat der Sender Geld für seine Demonstrationen jeden Freitagnachmittag übrig. Anfangs denke ich überhaupt nicht daran, aber nach einigen Tagen wird mir plötzlich klar, dass niemand meinen Gestank, meine Kleidung, meine Verbaltics kommentiert, als wäre es ihnen egal, oder vielleicht sehen sie mich nicht oder schaffen es nicht, mich zu sehen. Keiner von ihnen redet mit mir, sondern sie sprechen nur zu mir. Sie halten mich nie auf und fragen nach meinem Leben, auch dann nicht, wenn ich versuche, sie aufzuhalten und nach ihren Leben zu fragen. Wenn ich in die Kantine komme, dann fühle ich mich fast unsichtbar. Sie lächeln nur selten, lachen nie, sind oft sehr ernst, als würde hinter dem Heizungskeller schon die schwarze
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