Herr Tourette und ich
Hölle warten. Mein unfreiwilliger Stil unterscheidet sich nicht sonderlich vom freiwilligen Stil der übrigen Beschäftigten – schwarze Kleidung, leicht fettige Haare, Bart, Schuhe ohne Sohlen, schwarze Ringe unter den Augen. Aber nur ich habe den linken Fuß in Plastiktüten eingewickelt und springe an einer Krücke herum. Und die anderen riechen ziemlich gut, alle scheinen sich regelmäßig zu waschen, mindestens fünfmal die Woche, würde ich meinen.
Zu meiner großen Freude entdecke ich ein kleines Zimmer vor dem Heizungskeller. Die Tür kriege ich leicht auf, und im Zimmer befinden sich alte Möbel und Zeitungen, es scheint eine Abstellkammer für Büromöbel zu sein. Hier ist es warm und still, und es gibt keinen Strom. Das einzige Geräusch, das man hört, ist der kleine monotone Ventilator vom Heizungsraum. Aber der stört mich nicht. Das Geräusch irritiert nicht, sondern heilt – wenn ich mich an die Wand lehne, schließe ich die Augen und versetze mich in die Kabine einer Boeing 747. Das Geräusch der Motoren, die arbeiten und brummen, betäubt mich, und ich schlafe ein, schlafe gemütlich, gemütlicher als seit langem, seit der ersten Nacht im Chrysler habe ich nicht eine solche innere Ruhe empfunden. Das Gefühl des Wohlbehagens ist so schön und entspannend, dass der Zwang ein paar Stunden Auszeit nimmt. Nun beschließe ich, zwischen der Abstellkammer, dem Chrysler und dem Zimmer, das ich miete, zu wechseln.
Nach nur wenigen Tagen nehmen die Zwänge wieder zu. An einem guten Tag dauert es um die vier Stunden, die zwei Kilometer vom Studio zurück zum Chrysler zu bewältigen. Wenn ich abends zum Studio komme, um mit Alternativ Elektrisch zu beginnen, treffe ich immer zufällig den Redakteur, also den Vierzigjährigen mit weißen gefärbten Haaren, der dann gerade sein Abendprogramm Alternativ Politisch beendet hat. Er spielt keine Musik, redet hauptsächlich, plaudert über dies und das. Der Redakteur lacht selten, ist sehr seriös, minimale Distanz zu sich selbst, bedenkt mich manchmal mit etwas verschwommener Kritik. »Quetsch doch etwas mehr Alternatives in die Moderationen, okay?«
Der Redakteur sitzt dann noch eine halbe Stunde da, trinkt Wasser und zündet sich einen Joint an, und am Schluss sagt er immer »go for it«. Dann nimmt er die U-Bahn nach Hause. Die nächste Gruppe Menschen taucht erst wieder gegen sechs Uhr morgens auf, ich habe also den Sender und die Nacht für mich allein. Die halbe Stunde vor meiner Sendung gehört politischen Kampfgesängen, die nonstop von vorproduzierten Bändern abgespult werden. Dann rede ich und spiele zwei Stunden lang Platten, ehe das vorproduzierte Band mit politischen Kampfgesängen bis sechs Uhr weiterläuft. Dann taucht die Frühstücksmannschaft auf und macht das Flaggschiff des Senders: Alternatives Gefrühstückt . Dieses Frühstück geht bis um zwölf, woraufhin Die MittagsAlternative übernimmt. Und immer so weiter. Ich muss also ungefähr eine halbe Stunde, ehe meine eigene Sendung anfängt, vor Ort sein. Das ist das Einzige, worauf ich mich konzentrieren muss, mal abgesehen davon, dass ich dafür sorgen muss, dass Alternativ Elektrisch auch wirklich über den Äther geht. Nach der Sendung suche ich meine Sachen zusammen, bringe die Platten ins Archiv, zwangshandele mich durch zwei Zimmer, die zur Küche führen. Ich öffne die Kühlschranktür. Alle haben ihre Essensboxen markiert und Namen daraufgeklebt. Ich mache alle Boxen auf und nehme das an Essen mit, was ich in der kommenden Stunde zu brauchen meine. Ich finde Sardinen, Birnen, Rosinen, Nüsse, Leberpastete und ein paar Pakete Kräcker. Dann mache ich die Essensboxen wieder zu und stelle sie in den Kühlschrank zurück, exakt auf denselben Platz, auf dem ich sie gefunden habe. Ich nehme ein Stück Papier und schreibe mit schwarzem Filzstift:
»Wer hat meine Sardinen geklaut? Gruß Kristinus. Alt.Elektr.Progr.Ltg.«
So werden sie mich wenigstens nicht verdächtigen.
Dann verlasse ich die Redaktionsräume und begebe mich in die Abstellkammer. Die Tür zu dem Raum ist aus irgendeinem Grund immer verschlossen. Aber ich kriege sie mit meinem gelben Bic-Stift auf. Der Bic-Stift ist mein selbstgebastelter Universalschlüssel. Er hat mir geholfen, sowohl in den Chrysler als auch in die Fabrik zu kommen, und jetzt auch in meinen neuen, warmen Unterschlupf. Ich lege mich auf den Fußboden, nehme ein Bündel Zeitungen als Unterlage und Kissen und fange an, meine luxuriöse Nachtstulle
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