Herr Tourette und ich
mich auf die Probe stellen. Sein Gerede davon, dass ich nach Hause ziehen muss, greift bei mir nicht. Ich lebe doch ganz gut, so wie ich lebe, und ich esse mich so einigermaßen satt an Sardinen und Rosinen und Knäcke und Rippchen, so dass ich seine Würstchen im Brötchen mit gerösteten Zwiebeln und starkem Senf eigentlich nicht brauche. Eigentlich nicht. Ich beschließe, nicht mehr zu ihm zu gehen, er kommt ohne mich klar und ich ohne ihn.
Ich bleibe vor einem Spiegel in der Redaktion stehen. Finde das Loch im Hemd, und ich fange an, nach den Flecken zu suchen, die nachts immer ziemlich heftig jucken. Es sind nicht mehr geworden, sie sind nicht größer und auch nicht hässlicher. Außerdem scheinen sie nur nachts zu jucken, nicht tagsüber, was meine Laune etwas hebt. Vielleicht sind sie ja dabei zu verschwinden. Ich hoffe, dass sie möglichst bald verschwinden, aber ich weiß nicht so recht, was bald bedeutet – eine Woche, drei Tage, drei Monate? Ich sollte in eine Apotheke gehen und eine Salbe gegen die Leopardenflecken, oder was es nun ist, kaufen. Aber die Apotheke muss warten. Es würde viel zu lange dauern, die Türschwellen zu überqueren, all die Menschen um mich herum würden mir Stress machen, die Geräusche und die Farben, die Angestellten würden mich ausfragen, meine Existenz, mein Leben in Frage stellen.
Ich betrachte weiter meinen Körper im Spiegel. Die Haare sind lang und dick, wie die von Bob Dylan oder wie die von einem Verrückten. Ich glaube, ich lächele, ich lächele, weil ich weiß, dass ich kein Verrückter bin, und auch nicht Bob Dylan. Ja, rein theoretisch betrachtet habe ich doch mehr mit Bob gemeinsam als mit dem Verrückten. Ich habe einen Job, feste Arbeitszeiten, habe Lohn, Essen, bin frei und trage schwarze Kleidung. Ich kämme die Haare mit Wasser nach hinten, glänzend und stylish, und ich finde, dass ich entspannt aussehe. Ich wage es immer noch nicht zu duschen. Ich wasche mich mit einem Geschirrtuch am ganzen Körper, und ich schmiere Arme und Beine und Hintern und Gesicht mit einer alten Niveacreme ein, die ich in der Ledertasche gefunden habe.
Bald werden meine Schuhe neue Plastiktüten brauchen, meine Fingernägel sind so lang wie die einer Frau, die Finger sind schmutzig und etwas staubig, abgesehen von den beiden Zeigefingern, die so viel weißer und sauberer sind als die anderen Finger. Ich sehe, dass ich über der linken Augenbraue eine Wunde habe. Das kann von dem Augentic kommen, der mich im letzten halben Jahr verfolgt – den Zeigefinger ins Auge drücken, bis alles weiß wird und es so einen Lichtstrahl im Kopf gibt. Das ist ein schöner Tic. Vor ein paar Tagen muss ich versehentlich neben das Auge gefasst haben. Ich erinnere mich noch an das Zucken im Bauch und das Geräusch, dann fuhr der Zeigefinger zum Auge hoch, und dabei muss ich mich vertan haben oder irgendwie in Gedanken gewesen sein, denn der Finger ist abgerutscht, hat das Auge verfehlt und stattdessen die Augenbraue getroffen, die dabei vom Nagel des Zeigefingers aufgerissen wurde. Ich habe geblutet, daran erinnere ich mich, habe es aber nicht geschafft, das Blut abzuwischen, weil ich nur ein paar Sekunden später ritualisieren musste. Aber jetzt habe ich Zeit, ein Pflaster draufzukleben. Ich setze es ganz elegant schief auf die Stirn.
Vielleicht rieche ich nach Schweiß, aber ich glaube nicht, dass der Geruch erstickend ist. Ich selbst merke nichts, es ist, als wäre der Gestank verschwunden. Die Haare riechen ein wenig, aber das ist ja auch kein Wunder, denn die Nase sitzt ja näher an den Haaren als an den Achseln, und deshalb ist es natürlich leichter, die Gerüche wie eine Parabolantenne aufzufangen, die sich in derselben Region ausbreiten. Ich glaube, meine Haare riechen nach öliger Butter oder nach butterigem Bratfett. Aber darüber denke ich nicht nach, also stört es mich nicht, es ist nichts Akutes, Haarewaschen gehört nicht zu den Dingen, die derzeit bei mir Priorität haben, außerdem ist es gar nicht so lange her, seit ich die Haare gewaschen habe. Ich weiß nicht mehr wann, aber wer weiß das schon so genau? Außerdem würde eine Haarwäsche unglaublich viel Zeit benötigen, das reinste Weihnachtsgeschenk für die Zwänge und die Rituale, also lasse ich es bleiben, es gibt Wichtigeres zu tun.
Die folgenden Wochen – wenn es nun Wochen sind, können auch Tage sein – versetzen mich in der Zeit ein wenig zurück. Der Alltag verkehrt sich, die Hoffnungslosigkeit kehrt mit
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