Herr Tourette und ich
zu verzehren. Ich genieße, ja, ich glaube wirklich, dass ich es genieße. Nach einer halben Stunde ist es fünf Uhr, und ich schlafe gemütlich zu dem Geräusch der vier Rolls-Royce-Ventilatorturbinen vom Heizungsraum ein. Schön – Zucken im Bauch .
In den ersten Nächten funktioniert Alternativ Elektrisch ziemlich gut. Ich parke den Körper für zwei Stunden auf demselben Stuhl, vermeide viel Bewegung und spiele oft denselben Künstler mehrmals. Auf diese Weise muss ich nicht aufstehen und neue Platten holen, Türschwellen überqueren und mich unnötigen Ritualen aussetzen. Nach der Sendung krieche ich in meine Kammer zurück. Ich schlafe tagsüber, sitze an der Tür zu den Räumen des Senders und höre zu, gehe herum, schlafe noch etwas, um dann – wenn ich höre, dass es in der Redaktion still ist – ungefähr eine halbe Stunde vor der Sendung ins Studio zu gehen. Ich bitte darum, meinen Lohn in einem Umschlag zu bekommen, den man in mein Fach in der Redaktion legen soll. So muss ich keine Adresse oder Telefonnummer angeben.
In ein Mikrofon zu sprechen birgt die Gefahr neuer Rituale, Wiederholungen und extremer Handlungen – ich muss die Buchstaben x, y und z wiederholen, muss sie aus Sicherheitsgründen viermal wiederholen, sonst kann eine Katastrophe eintreffen, die meine Familie, meine Persönlichkeit, die Zukunft treffen kann. Ich vermeide es, Künstler oder Bands mit x, z oder y im Namen zu lesen. In der Woche darauf vermeide ich auch, deren Musik zu spielen. Einige Tage darauf vermeide ich jede Form von Mikrofongerede und lasse stattdessen die Künstler durch ihre Musik sprechen. Das ist ohnehin das Alternative – die elektrische Musik, nicht meine elektrische Zunge. Um nicht gekündigt zu werden, achte ich darauf, meine neue Taktik schon zu Beginn des Programms zu erläutern: »Derzeit ist es ja populär, eine Menge Scheiß zu labern, aber ich lasse stattdessen die Texte der Songs für sich selbst sprechen, und damit werden meine eigenen Worte überflüssig.«
Und die Leitung des Senders scheint meine neue Ausflucht zu kaufen, jedenfalls beschwert sich niemand, und es wird auch nicht kommentiert. Niemand sagt etwas über die Weise, in der ich Alternativ Elektrisch mache. Wenn ich doch einmal jemanden im Flur treffe, sieht derjenige zur Seite, in seine Papiere, zur Decke hoch oder auf meine fettigen Haare. Niemand sagt etwas, keiner gibt einen Kommentar ab, ich habe zumeist das Gefühl, völlig unbedeutend zu sein, wie ein richtiger Mister Nobody.
An den Wochenenden begebe ich mich in die westlichen Stadtteile zu dem Zimmer, das ich immer noch von der alten Dame miete. Ich hole die Post, tue so, als würde ich putzen, tue so, als würde ich von einer längeren Reise nach Hause kommen. Dann wandere ich nach Norden zur Fabrik. Ich ruhe mich im Chrysler aus, höre Radio, esse das Knäckebrot aus dem Handschuhfach, wandere herum, ziellos. Ich denke darüber nach, dass ich mehrere Tage, vielleicht auch Wochen am Stück mit niemandem gesprochen habe. Nicht mit meiner Familie, nicht mit den Kollegen beim Sender, nicht einmal mit Winston in der Würstchenbude. Aber das macht nicht viel, das Letzte, was ich gerade brauche, ist Aufmerksamkeit, und es ist auch das Letzte, was ich jetzt gerade jemandem schenken will.
Es fängt wieder an zu jucken. Es juckt unter den Armen, an der Seite, in den Kniebeugen. Entweder bin ich manisch, oder ich bin von irgendetwas gestochen worden oder habe mir etwas eingefangen. Die einzige Möglichkeit, das Jucken loszuwerden, ist, weiterzuwandern. Als ich zur Würstchenbude komme, steht Winston da wie immer. Als wäre es gestern gewesen. Aber er fragt diesmal doch etwas mehr, er fragt so viel, dass es an der Grenze zum Ärgerlichen ist, doch, er fragt ärgerlich viel:
»Du warst ja eine Weile nicht hier.«
»Nein.«
»Wo warst du?«
»Ich war weg, weißt du.«
»Ne, weiß ich nicht.«
»Auf Reisen.«
»Wohin?«
»Nach Norden.«
»Nach Hause?«
»Nein, Nordwesten.«
»Nordwesten?«
»Die Arbeit, weißt du.«
»Welche Arbeit?«
»Rundfunkproduzent. Reise im Land herum …«
»Sicher nicht leicht mit so einem Fuß.«
»Fuß?«
»Dein verletzter Fuß.«
»Nein … ist nicht leicht.«
»Wann kommt der Gips ab?«
»Bald.«
»Wie bald?«
»Ziemlich bald.«
»Nächste Woche?«
»Bald.«
»Zieh nach Hause, Junge. Sei so gut. Das hier ist nichts, womit …«
Er versucht mich dahin zu bringen, als würde er wissen, als würde er
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