Herr Tourette und ich
umzugehen – zu hinken, zu gehen, mich zu setzen. Sie fühlt sich fast ein wenig wie mein alter Bauer-Schläger an, der Hockeyschläger, der dem Leben einen Sinn gab.
Ich hinke auf den Straßen herum, führe immer noch meine Rituale aus. Doch die Krücke gibt mir eine neue Möglichkeit, mir selbst zu begegnen, als würde ich mir jetzt erlauben, mich verletzlich zu zeigen, ohne mich schämen oder resignieren zu müssen. Ich werde immer noch angestarrt, aber es begegnen mir keine herablassenden Blicke oder verurteilenden Kommentare mehr. Die Krücke hilft, und in gewisser Weise bedeutet sie eine Veränderung, eine defensive Offensive – und noch scheinen die Rituale keine Gegenoffensive gefunden zu haben.
Ich verliere das Zeitgefühl, habe eigentlich keine Ahnung, welche Woche ist oder wie lange ich schon in Oslo, dem Zimmer oder dem Chrysler wohne. Ein Tag, zehn, zehn Monate, zwei Jahre?
Ich liege auf dem Rücksitz und denke darüber nach, was ich an einem Tag wie diesem tun werde. Durch welche Straßen werde ich vorwärtshinken, in welche Cafés werde ich mich wagen, sollte ich ein neues Paket Knäckebrot kaufen oder ein halbes Kilo Rippchen, Orangensaft oder Ananassaft, heute oder morgen oder am nächsten Samstag zu Hause anrufen? Ich liege gemütlich auf dem Rücksitz und denke, liege so gemütlich, dass ich an manchen Tagen, vor allem an Samstagen und Sonntagen, wieder einschlafe. Das ist schön. Da kann ich gegen zwei Uhr nachmittags aufwachen und feststellen, dass es die Mühe nicht wert ist, sich auf die Wanderung zu begeben, und dass ich ebenso gut für den Rest des Tages auf dem Rücksitz bleiben kann. Ich habe ein Radio, das leistet mir Gesellschaft, vor allem der Sport und die Nachrichten. Samstag und Sonntag sind schließlich Sporttage, da kann man gut auf dem Rücksitz liegen bleiben und halb wach und halb schlafend einfach nur zuhören. Ich hebe die Beine und kreise mit den Gelenken, wenn ich mich steif fühle, lasse das Blut durch den Körper zirkulieren, tue so, als säße ich im bequemsten Business-Class-Sitz der Welt auf dem Weg über den Atlantik, vor mir fünfzehn Stunden Flug. Samstag und Sonntag sind inzwischen meine ruhigen Tage, das halte ich ganz so wie der Rest der Gesellschaft. Doch genau wie für alle anderen Menschen ist es auch für mich wichtig, dass ich an den anderen Wochentagen wie geplant aufstehe und frühstücke, um dann die Wanderung des Tages zu beginnen. Das ist Routine geworden. Eine Routine, die ich selbst geschaffen habe, eine gute und wichtige Routine. Ein Zeichen dafür, dass ich am Leben bin, dass ich ein Leben lebe, ein geregeltes Leben, wie alle andern auch.
Mit dem stärksten Senf, den du hast
Wenn ich akut hungrig bin, kaufe ich Würstchen. Für eine Wurst mit gerösteten Zwiebeln und Senf bezahle ich zwölf Kronen. Zweimal die Woche verspüre ich akuten Hunger, also esse ich zweimal in der Woche Wurst, achtmal im Monat. Das sind monatliche Kosten von sechsundneunzig Kronen. Die Würstchenbude gefällt mir, sie scheint ungefährlich, erinnert an die sauberen Autos und das saubere Handwerkzeug der Dreißigerjahre. Drinnen steht ein Typ, der in Handschuhen und weißem Kittel und mit einem freundlichen Onkel-Blau-Lächeln die Würstchen serviert. Der Würstchen-Mann steht mit seiner Bude direkt am Rande des Stadtzentrums. Und es ist eine richtige Würstchenbude, nicht so ein ehemaliger Wohnwagen mit in doppelte Gefriertüten eingepackten, toten Würstchen. Die Würstchenbude vom Würstchen-Mann steht fest zementiert auf dem Asphalt, und das schon seit mindestens vierzig Jahren. Ich kann mit eigenen Augen sehen, wie die Würstchen im Topf herumschwimmen, wie sie darum streiten, wer am besten, am größten und am schönsten ist, wie sie sich darum schlagen, zuerst ausgewählt zu werden, sich aneinander vorbei drängeln, alle wohl wissend, dass der Sieger in dem Brötchen landet, das Onkel Blau in seiner linken Hand bereithält. Der Würstchen-Mann selbst ähnelt Winston Churchill, wenn man mal zehn Kilo abzieht. Er ist in Oslo geboren und aufgewachsen, hat einen lockeren Tonfall und macht sich nicht allzu viele Sorgen – das wird schon wieder, sollst mal sehn, das wird schon wieder werden. Winston redet mit den Kunden, während er die Würstchen wie brennende Kegel, die in der Luft herumschwirren, bearbeitet. Ein Gourmetjongleur, der außerdem noch über alles reden kann, von Orkanstärke bis Inkontinenz, und der es immer schafft, das Gespräch in genau dem
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