Herr Tourette und ich
Menschen haben. Ich habe seit ein paar Wochen keinen Kontakt zu anderen Menschen gehabt, und seit dem Redakteur in der Würstchenschlange hat auch niemand zu mir Kontakt aufgenommen. Es gibt niemanden da draußen, der mir ans Leben will, und niemanden, dem ich das Leben nehmen will, also schütte ich die Odinsuppe vorsichtig in die Dose Zitronensprudel und schüttele den Zitronensprudel eine Minute oder zwei, schüttele ihn ein, zwei, drei, vier fünf + ein, zwei, drei, vier Mal + drei Wiederholungen. Einen Zug jede fünfte Minute, schreibt Harald Blaubart. Ich kann nicht einmal saugen, ich muss viermal saugen. Also lautet meine Version vier Züge alle fünf Minuten. Kann nicht schaden, das ist, als würde man neun Eier in einen Pfannkuchenteig tun, der auf vier Eier berechnet ist.
Odin und ich
Ich sauge – vier langsame Züge. Odin schmeckt nicht nach Hagebuttensuppe, auch nicht nach Puderzucker oder Vanillezucker oder Rohrzucker. Odin schmeckt irgendwie nach Öl. Gezuckertes Motorenöl. Ziemlich gut, aber doch nichts, was einen abhängig macht. Aha. Das war das. Nichts passiert, der Kopf ist noch dran, die Gedanken auch. Drei Minuten vergehen. Nichts passiert. Es scheint auch weiter nichts zu passieren, also nehme ich vier weitere Züge. Vier Minuten. Die Zunge fühlt sich hart an. Hart und gefühllos. Der Geschmackssinn scheint sich davonzumachen. Ich stehe auf. Die Leopardenflecken jucken nicht mehr. Zunge jetzt steinhart. Ich gehe im Raum herum, beiße mir auf die Zunge, setze mich wieder hin. Es fühlt sich an, als sei die Zunge aus dem Kiefer gerissen und würde jetzt auf dem Plattenteller liegen und sich drehen und drehen und drehen. Ich habe keine Zunge mehr. Der Deckel, der Deckel des Plattenspielers klappt sich über meinen Kopf, drückt sich über die Ohren, die Wangen, nur der Mund bewegt sich. Deckel für die Ohren, für die Augen, für die Nase, nur der Mund bewegt sich. Ich höre schlechter, kann nicht mehr so gut riechen, nur der Mund bewegt sich. Ich rede, höre aber nicht, was ich sage, versteh nicht, wovon ich da rede. Rede ich? Ich mache die Augen auf, reiße sie auf, kneife sie zusammen, ziehe Grimassen. Auf den Ohren sitzt immer noch der Deckel vom Plattenspieler, und ich höre immer noch fast gar nichts. Die Nase scheint auch ihren Dienst quittiert zu haben, ich verspüre nur noch den Geruch von Motoröl mit Zucker.
Alles verschwindet, ich verschwinde, weißer Nebel schwebt an den Augen vorbei. Ich habe keine Kontrolle, will aufstehen, aber der Körper hält mich auf dem Stuhl. Ich will rufen oder schreien oder weinen, aber die Zunge ist immer noch weg und die Ohren hören mich nicht und die Nase riecht nichts. Und ich genieße es.
So still und so schön. Ich denke nicht, dass ich da verweilen will, ich denke gar nichts. Ich spüre nur ohne zu denken, fühle, dass ich hier drin bleiben will. Bis Odin mich rausschmeißt.
Ich erwache davon, dass die Zunge wieder in den Mund gehüpft ist. Ohren und Augen fühlen sich immer noch abwesend an, aber es ist doch schön, dass sie nach wie vor dabei sind. Ich höre nicht viel, sehe nicht viel, aber fühle mich derart entspannt, so ruhig, so verdammt normal. Neben mir liegt der Zettel und zwei von den Odintabletten. Jetzt erinnere ich mich. Mein Radiowecker zeigt 07.30. Der Odineffekt scheint sich immer noch zu halten. Der Kopf fühlt sich anders an, leichter, als würde es im Gehirn jucken. Ich gehe in die Stadt. Das ist alles völlig absurd – die meisten Türschwellen überquere ich im zweiten Versuch, vergesse in Läden und in der U-Bahn die Rituale auszuführen und vergesse sogar, mich hinterher selbst dafür zu bestrafen. Alles um mich herum wird so leicht und so sanft und so behaglich. Ich höre keine fiesen Geräusche, sehe keine Farben, es riecht nicht unangenehm um mich herum. Ich spüre die Tics, aber als würde es sich um eine banale Erkältung handeln, registriere ich sie nicht. Ich wage, wieder in die Synthie-Cafés zu gehen und bestelle Kaffee und beginne sogar ein Gespräch. Ich beginne Gespräche, die höchstens fünf Minuten währen, dann vergesse ich, worüber wir eigentlich reden. Sanft, schön, harmlos. Ich erwäge, mir die Haare zu schneiden, sogar das Phänomen Duschen ziehe ich in Betracht. Neue Kleider? Denkbar. Den Mantel behalte ich, aber das gelb-schwarze Synthie-Hemd und die Anzughosen und die tätowierten Unterhosen sollte ich bald mal ablegen. Aber ich warte lieber noch, noch ein paar Wochen.
Als Odin meinen
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