Herr Tourette und ich
doppeltem Tempo zurück. Ich schaffe es, mich achtundzwanzig Meter weit ins Studio zu begeben. Dann lege ich eine Platte auf, die ich bis zum Ende liegen lasse. Das dauert zirka fünfunddreißig Minuten. Zwanzig Minuten dauert es, zurückzugehen und zwei Türschwellen zu überqueren, um eine neue Platte zu holen. Ich schaffe es gerade wieder zurück ans Pult, um kurz Folgendes ins Mikrofon zu sprechen: »Wie gesagt, meine Worte sind völlig überflüssig, liebe Leute, hört euch den ganzen Text an.« Dann lege ich die neue Platte auf. Während der Zeit, in der sie läuft, erledige ich meine Zwangshandlungen, neue Platte, Zwangshandlungen fertig machen, neue Platte. Und immer so weiter. Der Job verdirbt mir immer mehr die Laune, Zwänge und Rituale haben einmal mehr meinen Alltag fest im Griff. Ich bin wieder zum Statisten degradiert. Zurück auf Los.
Mal probieren?
Freitag, Nacht.
Auf dem Deckel des einen Plattenspielers liegt eine weiße Serviette. »Mal probieren?«, steht auf dem gelben Post-it-Zettel auf der Serviette, und der ist für mich. Ich mache die Serviette auf, ganz vorsichtig, denn ich weiß ja nicht, was drin ist, es kann alles Mögliche sein – ein billiger Scherz, eine lebensgefährliche Briefbombe, eine Erklärung dafür, warum ich immer noch keinen Lohn bekommen habe. In der Serviette liegt ein kleines Stück Papier. Ich falte es auseinander und drei runde Tabletten fallen auf den Deckel des Plattenspielers. Das Papierstückchen selbst scheint eine Art Gebrauchsanleitung zu sein. Ich lese:
»Zum Probieren fürs Synthie-Genie. Lege 1 Stck. Odin auf 1 Esslöffel. Wärme die Tablette an, bis sie wie Hagebuttensuppe aussieht. Schütte die Suppe in eine Dose Zitronen-Fanta mit Kohlensäure, schüttele sie und trinke den Inhalt im Verlauf einer halben Stunde. Nimm dazu einen Strohhalm. Einmal saugen alle fünf Minuten. Einen entspannten Einstieg. Grüße die Götter von mir.
Gruß, Harald Blaubart«
Ich weiß, dass Odin der Name eines Gottes aus der nordischen Mythologie ist, Harald Blaubart klingt nordisch, aber ich kann ihn historisch nicht richtig einordnen, hier in der Neuzeit scheint er aber ganz in der Nähe zu sein. Ich erinnere mich, dass man in Synthiekreisen gern Wikingernamen benutzt, Puderzucker und Hagebuttensuppe übrigens auch, als Decknamen für anderes weißes Pulver. Die Odintabletten sehen aus wie die Tabletten von Papa, die immer noch im Seitenfach der Ledertasche liegen. Sie sind fast identisch, also können sie nicht so sehr gefährlich sein, zumindest werden sie mich nicht umbringen. Im Gegenteil. Sie können mir helfen, dass es mir besser geht. Helfen, Zwangsgedanken und Rituale für einige Minuten zu vergessen. Wie das wohl wäre – Minuten ohne Zwänge? Ist das überhaupt möglich? An einer Odintablette werde ich nicht gleich sterben, und meine Gedanken können nicht schlimmer werden, als sie es sowieso schon sind. Also machen Odin und ich sofort ein Treffen aus, ein Treffen sollte reichen, eine Art One-Night-Stand mit Strohhalm.
Um eins lege ich mit Alternativ Elektrisch los und kündige das Nachtprogramm an. Zum Anfang spiele ich die deutschen Tangerine Dream und beschließe, die Platte durchlaufen zu lassen, die ganze Seite wird mindestens fünfundzwanzig Minuten in Anspruch nehmen. Also habe ich maximal fünfundzwanzig Minuten, um in die Küche zu gehen (erste Türschwelle), die Kühlschranktür zu öffnen (zweite Türschwelle), einen Zitronensprudel und einen Strohhalm zu holen, und mich dann wieder ins Studio zu begeben (dritte Türschwelle).
Ich lege die Tangerine-Dream-Platte auf und zwangshandele mich aus dem Studio. Dreiundzwanzig Minuten und drei Türschwellen später sitze ich im Studio und sage an, dass ich jetzt die komplette Seite zwei der neuesten Kraftwerk- LP spielen werde. Jetzt habe ich genug Zeit, um Odin zu probieren.
Ich denke nicht viel darüber nach, was die Odintablette wohl sein könnte, die Neugier regiert über die Vernunft, in manchen Situationen funktioniert das ausgezeichnet, in anderen weniger gut. Ich probiere. Und folge ganz genau den Anweisungen. Während ich das Odin-Zeug auf dem Esslöffel anwärme, überlege ich, wie die Konsequenzen wohl aussehen könnten. Ich kann nicht daran sterben, niemand will mir ans Leben, niemand hasst mich so sehr. Damit jemand einen töten möchte, muss man ihn provoziert haben, um jemanden zu provozieren, muss man ihm begegnet sein, und um sich zu begegnen, muss man Kontakt mit anderen
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