Herr Tourette und ich
sie haben angenommen, und dann haben sie so nette Dinge von Ihnen erzählt.«
Die alte Dame geht vor mir ins Haus. Ich tue so, als müsste ich mir die Schuhe binden, ehe ich mich bereit mache, mich über die erste Türschwelle zu ritualisieren. Ich schaue über den Türrahmen – blauer Punkt, linkes Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad, blauen Punkt ansehen, gehen, eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier …
Ich unterbreche mich selbst. Ich merke, dass die alte Dame ihre übliche Position im zweiten Stock hinter der Gardine eingenommen hat. Ich beuge mich wieder herab, tue noch einmal so, als müsste ich etwas an den Schuhen machen. Nach einer Viertelstunde komme ich durch die Tür, gute Arbeit, schön.
Als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehen will, ist bereits aufgeschlossen. Sie hat sie gesagt, sie . Ich mache die Tür auf, vorsichtig … Das Schlafsofa ist umgeworfen, die Matratze aufgeschnitten, Bücher und Mülleimer und Saftpakete und Kochplatte liegen auf dem Fußboden. Der Fernseher und die Gardinen scheinen sie nicht interessiert zu haben, die durften am Leben bleiben. Der Uringestank hat sie nicht daran gehindert, mindestens zehn Minuten ihrer Zeit in dem Zimmer zu verbringen, wahrscheinlich haben die Idioten die Katzenpisseerklärung der alten Dame geglaubt. Sie haben sich auch nicht um die schimmelig-grünen Rippchen geschert, die wegzuwerfen ich vergessen habe und die in einer Tüte zwischen zwei leeren Urintüten hängen. Mitten auf dem Fußboden liegt das Geschenk. Es ist in Weihnachtspapier eingepackt. Meine Finger bewegen sich hoch und runter, ich zittere, ein wahnsinnsheftiges Unbehagen drängt sich in den Körper. Das Geschenk kann alles Mögliche enthalten. Ich werfe es fest gegen die Wand und suche Schutz hinter dem umgeworfenen Schlafsofa. Nichts passiert. Ich mache das Geschenk auf, schrittweise, vorsichtig. Ein Schuhkarton, Ecco-Damenschuhe. Ich hebe den Deckel ab, und ganz unten im Karton, unter dem dünnen weißen Papier, liegt die Überraschung – die Serviette. Ich falte sie auf. Alles gleich. Dieselben Worte, dieselbe Frist, dieselbe Unterschrift. Ich verstehe. Sie meinen es ernst, und ich bin übel dran. Ich begreife, Botschaft angekommen. Zucken im Bauch, Geräusch .
Ich denke nicht nach, sondern handele – putze, drehe das Schlafsofa um, sammele die Saftpakete auf einem Haufen, die Zeitungen auf einem anderen. Ich spüre, dass ich hier weg muss, sie können überall sein, wo auch immer, hinter der Ecke stehen, in einem Auto sitzen, im Sender warten, in meinem Unterschlupf. Ich klopfe an die Wohnungstür der alten Dame. Sie macht sofort auf, als hätte sie darauf gewartet, dass ich komme. Ich sehe ihr an, dass sie keine Ahnung davon hat, wie es unten in dem Zimmer aussieht, also frage ich sie:
»Haben meine Freunde gesagt, wie sie heißen?«
»Nein … die wollten Sie nur überraschen.«
»Wann war das?«
»Montagabend.«
»Ich würde mich gern bei ihnen bedanken, sie haben also keine Telefonnummer oder Adresse hinterlassen?«
»Nein, sie sagten, Sie wüssten schon, wer sie seien.«
Ich gehe wieder ins Zimmer hinunter und schreibe der alten Dame ein paar kurze Zeilen. Zum Glück finde ich eine Ansichtskarte mit einem Nordland-Motiv drauf. Ich schließe mit:
»Es war eine Ehre, bei Ihnen wohnen zu dürfen. Jetzt geht das Leben weiter, ich wünsche Ihnen alles Gute. /P.
PS : Ich bezahle die doppelte Miete, wegen des kurzfristigen Auszugs.«
Ich lege den Brief mit dem Geld auf die Fußmatte vor meinem Zimmer. Die Odinserviette stecke ich in die Manteltasche, in der kein Loch ist, die Kochplatte in die Ledertasche, und dann verlasse ich das Zimmer.
Und ich kehre nie wieder zurück.
Ich fange an, mir Szenarien auszudenken – was ich tun werde, was ich nicht tun werde. Vor allem frage ich mich, wie sie an meine Adresse kommen konnten. Seit ich als Zeitungsausträger gearbeitet habe, habe ich niemandem meine Adresse gegeben. Beim Funk habe ich bewusst vermieden, darauf zu antworten, wo ich wohne, mein Lohn wurde in einem Umschlag in mein Fach gelegt, und ich hatte schließlich behauptet, ich würde Kristinus Bergmann heißen. Und ich bin auch nicht mit der Adresse im Volksregister verzeichnet. Können sie meine Eltern angerufen haben? Wohl kaum. Oder?
Mama ist dran. Ich frage dies und das, sie fragt zurück, »doch, klar«, antworte ich, »alles läuft gut, hab grad viel zu tun. Nein«, fahre ich fort, »hab es noch nicht geschafft,
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