Herr Tourette und ich
Körper verlässt, holen mich Zwänge und Rituale schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich schlage mir mit der Hand vor die Stirn und trete mit dem Fuß an die Wand, um mich zu bestrafen und zu erinnern meine Güte, was bist du nur für ein verdammter Idiot, der sein Gehirn von Chemikalien lenken lässt.
Ich gehe davon aus, dass Harald Blaubart, die Person, von der ich die Probe bekommen habe, bald Kontakt mit mir aufnehmen wird. Ich habe den Redakteur in Verdacht, aber die wenigen Male, dass ich ihm begegne, scheint er mehr mit Songlisten und Abspielrechten beschäftigt als mit Servietten und Zetteln. Ich vergleiche auch seine Unterschrift im Redaktionsbuch mit der Unterschrift unter dem Rezept, aber das kann nicht dieselbe Person sein. Also habe ich keine Ahnung, wer es ist, und ich glaube immer mehr, dass Harald Blaubart niemals existiert hat, dass er ganz einfach ein Produkt meines Willens ist, ein Mythos, eine Phantasie.
Spätestens Montag
Als ich gegen Mitternacht ins Studio komme, liegt eine neue Serviette auf dem Plattenspielerdeckel. Ich falte die Serviette auf, diesmal ist sie doppelt so dick, fünfmal so schwer, und mindestens fünfzig kleine Odintabletten fallen raus und in meine Hand. Ich kann keine Anweisung, keine kryptische Nachricht, keinen Zettel und keinen Gruß von Harald Blaubart finden. Nicht einmal Zum Probieren steht da. Bestimmt weiß Harald Blaubart, dass ich die Odintabletten bereits probiert habe, er weiß, dass ich weiß, wie der Hase läuft. Aber ich finde es doch irgendwie nett, dass er mir die Odintabletten gibt, ohne mit mir gesprochen zu haben, er grüßt mich nicht und stellt sich nicht vor, und nicht einmal Geld möchte er für das, was doch ziemlich wertvolle kleine Pillen sein müssen. Ich habe keine Ahnung, wer er ist.
Ich habe Odin nur einmal ausprobiert. Mir bringt es Ruhe und nicht die manische Unruhe, die die meisten damit erreichen möchten. Also ist Odin die reinste Erholung. Trotzdem nehme ich die Tabletten nicht, nicht jetzt. Ich habe Angst, dass sie mein Gehirn, meine Gedanken und Tics verseuchen, und dass sie mich verrückt machen. Aber es ist gut, sie zu haben, vielleicht können sie mich einmal retten, wenn ich ganz plötzlich Ruhe und Frieden brauche. Also lege ich die dicke Serviette mit den Odintabletten in die Ledertasche, dicht neben Papas Tabletten. Eigentlich unmöglich zu unterscheiden, was das Herzmittel und was das Hirnmittel ist. Alle sind weiß und rund und tragen keinen Stempel.
Dreiundzwanzig Stunden später, dasselbe Studio.
Auf dem Plattenspielerdeckel liegt eine neue Serviette, doch diesmal finde ich keine neuen Odintabletten, sondern nur einen neuen Zettel:
»Wie besprochen: Die erste Probe ist gratis, dann 2 Päckchen à 2.000,- = 4.000,-
Leg das Geld in einem Umschlag in das Fach von Harald Blaubart in der Redaktion. Spätestens Montag.
Gruß, Harald Blaubart«
Ich gehe sogleich in die Redaktionsräume und habe innerhalb einer Minute das Fach von Harald Blaubart gefunden. »Harald Blaubart, freier Mitarbeiter« steht dort. Ich begreife nicht, wie mir das vorher entgangen sein konnte, das Fach ist nur wenige Meter von meinem entfernt. Langsam kommt es mir so vor, als sei mein Gehirn vom Odin-Zeug bereits geschädigt – habe ich das Fach wirklich übersehen, oder ist es neu, war es gestern schon da, vorgestern, vor einer Woche, erlaubt er sich einen Scherz mit mir, erlaubt sich der Sender einen Scherz mit mir?
Zucken im Bauch .
Harald Blaubart ist keine Phantasiegestalt, kein Mythos oder Gerücht – es gibt ihn. Aber viertausend Kronen bis Montag, das muss ein Scherz sein, ich nehme es einfach nicht ernst und beschließe, mich um den Quatsch nicht zu kümmern. Ich habe das ganze Lager mit Odintabletten in der Ledertasche hinter dem Chrysler versteckt, aber drei Tabletten habe ich zufällig in der Tasche. Also rolle ich die Tabletten in die Serviette und lege sie in das Fach von Harald Blaubart in der Redaktion. Dazu schreibe ich: »Danke für die Probe.« Und ich beschließe, nie wieder irgendwelche Odintabletten oder Rezepte vom freien Mitarbeiter Blaubart anzunehmen. Den Scherz hat er zu weit getrieben. Denn es muss ja ein Scherz sein, ein practical joke, der immer mehr practical und immer weniger joke geworden ist. Viertausend Kronen für sechzig Odintabletten. Ich weiß ja nicht, was da drin ist, es ist ein Aufputschmittel, das ist mir schon klar. Aber der Scherz, dieser kindisch schlechte Erpresserbrief, Harald
Weitere Kostenlose Bücher