Herr Tourette und ich
Blaubart und Odin, nein, ich zieh mich da raus, ich komme ohne das klar, mir reicht, was ich habe, ich brauche keinen practical joke. Das mit dem Geld und der Frist ist mir egal.
In dieser Nacht schlafe ich nicht so gut. Ich habe das Gefühl, vom Flur und vom Studio her Geräusche zu hören, ein Rascheln, als würde jemand versuchen, in die Räume zu kommen. Ich schlafe vielleicht drei Stunden. Dann gehe ich in die Stadt, wandere herum, sehe Schaufenster an, gehe Kaffee trinken und schenke mir zehnmal nach. Ich kaufe mir einmal in der Woche gegrillte Rippchen, die ich in den Kühlschrank im Funk lege, und an denen ich jeden Tag nage, um den Hunger in Schach zu halten. Das ist alles, was ich brauche: Rippchen, Knäckebrot und Saft. Diese Diät praktiziere ich jetzt schon seit mehreren Wochen, vielleicht auch Monaten, aber der Körper scheint nicht zu protestieren, also muss es ihm recht gut gehen.
Ich liege bequem in der Abstellkammer und warte darauf, dass die anderen den Sender für diesen Tag verlassen. Ich höre Radio und sehe mir die Bilder in einer alten Zeitung an. Die Zwänge, ebenso wie die Tics, setzen stoßweise ein und drängen sich auf.
Die Zeitungsseite muss ich ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal umwenden, den Körper neunmal herumdrehen, das Radio achtzehnmal + ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal ein und ausschalten.
Ich bin traurig. Das Gefühl taucht einfach ohne Vorwarnung auf. Ich schaffe es, nicht zu weinen, ich will nicht weinen, ich kann nicht weinen, denn ich wäre gezwungen, mindestens ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier x neun Mal die Tränen abzuwischen, die Haut unter den Augen wird kaputtgerieben werden, und das wird unentwegt brennen. Es lohnt sich also nicht. Weinen ist etwas, was ich mir gerade nicht leisten kann.
Außerdem hilft es ja nichts, sich selbst zu bemitleiden, es gibt nichts, worüber ich heulen könnte – ich hungere nicht, ich habe einen Job, ich habe eine Familie, ein Dach über dem Kopf, also heul nicht, du Freakhirn .
Gegen halb eins bewege ich mich ins Studio. Ohne Odin im Körper dauert es zweieinhalb Stunden, mit Odin im Körper – zwanzig Minuten. Und wieder liegt eine Serviette auf dem Plattenspielerdeckel. Ich öffne sie und erkenne, dass es exakt dieselbe Serviette ist wie gestern, mit demselben geheimnisvollen Gruß von Harald Blaubart. Ich heiße die Hörer willkommen und kündige Oxygène von Jean-Michel Jarre an, das zu durchleiden fast vierzig Minuten in Anspruch nimmt. In dieser Zeit begebe ich mich in die Redaktion und lege die Serviette in das Fach vom freien Mitarbeiter Harald Blaubart zurück. Ich mache mir nicht die Mühe, die Retoure zu kommentieren. Das sollte er jetzt von selbst begreifen.
In meinem eigenen Fach liegt der Lohn für drei Wochen Arbeit. Zweihundertfünfzig Kronen in einem Umschlag. Das Geld wird für Essen und Kaffee, zwei Dosen Zitronensprudel und eine Zeitung draufgehen. Ich möchte so gern wissen, was in der Welt passiert.
Und ich kehre nie wieder zurück
Jetzt sind zwei Tage vergangen, seit die sogenannte Frist für die Bezahlung der Odinpillen verstrichen ist, doch es hat mich niemand mit einem Messer oder einer Pistole bedroht, und ich habe auch keine weiteren geheimnisvollen Nachrichten auf dem Plattenspielerdeckel gefunden. Die letzten beiden Tage habe ich mich entschieden, im Chrysler auszuruhen, nicht im Zimmer oder im Funk. Das fühlte sich sicherer und persönlicher an, als wäre es meine eigene Wohnung, mein Privatbereich.
Es ist Mittwoch, und ich wandere zu dem Zimmer, das ich miete. Ich muss die Post holen, das Psychologengeld, die Miete bezahlen, mich zeigen – all das, was ich schon voriges Wochenende hätte tun sollen.
Ich begegne der alten Dame am Briefkasten, zehn Meter vom Eingang entfernt. Sie lächelt vorsichtig, sieht wie immer auf meine Kleider, und noch ehe ich über meine jüngste Reise lügen kann, sagt sie:
»Ich hoffe, das war in Ordnung, ja, sie schienen so nett zu sein …«
Ich begreife absolut nicht, wovon sie redet.
»Wie bitte?«
»Ihre Kollegen, die waren doch so nett, deshalb habe ich ihnen erlaubt, das Geschenk direkt in Ihr Zimmer zu legen. Leider riecht es immer noch nach Urin von dem Besuch der Katze. Ja, ich bitte um Entschuldigung …«
»Was?« ist das Einzige, was ich herausbringe. »Wer?« ist das Einzige, was ich denke.
»Sie wirkten so nett, ich habe sie auch hinterher zum Kaffee eingeladen,
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