Herr Tourette und ich
meinen Bruder zu besuchen, ist grad so viel los, oje, nur noch eine Krone, sag mal, es hat nicht zufällig jemand angerufen und nach mir gefragt? Ne? Auch gut. Könnt ihr mich nächste Woche anrufen, hallo …?«
Nach dem Gespräch komme ich mir vor wie ein Idiot. Ein Feigling.
Mama und Papa, eines Tages werde ich euch glücklich machen, ich werde die Wahrheit erzählen, und eines Tages werde ich so gesund sein, dass wir alle zu Hause im Garten über einem frisch gebrauten Kaffee und einer duftenden Marzipantorte lachen und weinen können.
Ich komme mir vor wie ein Idiot, wenn auch ein klügerer Idiot. Verwirrt, aber doch ein wenig klüger. Sie haben also nicht zu Hause angerufen, haben meine Adresse nicht auf diese Weise herausbekommen.
Dann gibt es nur noch eine Alternative, und das ist die schlimmste – sie verfolgen mich.
Sie verfolgen mich, sind Zeugen meines Alltags, beobachten mein Verhalten. Mir wird schlecht, ich will mir den Finger in den Hals stecken, aber ich kann das nicht und weiß nicht, wie man es macht.
Ich gehe schneller, laufe fast, schließlich können sie in dem Auto da hinten sitzen, oder in dem Ford mit den getönten Scheiben, oder in dem Taxi, das an der roten Ampel wartet. Ich gehe weite Umwege, nehme die erstbeste U-Bahn, steige an der Endstation aus, wandere zurück, nehme einen weiteren Zug zur selben Endstation, wandere eine Station zurück und noch eine, nehme die U-Bahn in die entgegengesetzte Richtung bis zur östlichen Endstation der Linie, wandere von dort ins Zentrum, da nehme ich eine neue Bahn, die mich wieder nach Norden bringt. Ich verstecke mich in der Fabrik, sitze zwei Stunden lang still und horche auf Geräusche und Autos, während ich jeden Passanten beobachte, der aus dem U-Bahn-Schacht raufkommt.
Ich schlafe halb auf dem Rücksitz, halb hinter dem Lenkrad ein.
Die Lösung
Ich muss den Job beim Sender aufgeben und werde so drei- bis vierhundert Kronen im Monat verlieren. Ich bin aus dem Zimmer ausgezogen, das ich gemietet hatte, und verliere so Heizung und Elektrizität. Bald wird es draußen kalt werden, die Kälte wird mich möglicherweise krank machen, vielleicht todkrank, vielleicht werde ich auf dem Rücksitz eines alten Chryslers sterben. Ich sollte zu meinen Eltern nach Hause fahren und ihnen erzählen, wie es mir wirklich geht. Aber vielleicht wissen sie es ja auch schon, wenigstens ungefähr. Ich schäme mich dafür, dass sie einen Sohn haben müssen, der gejagt und verwirrt, ängstlich und nervös durch die Straßen irrt. Vielleicht sollte ich die U-Bahn nehmen und zu meinem Bruder fahren, an seine Tür klopfen, auf die Knie sinken und sagen, Lieber, Guter, lass mich eine Woche oder fünf hier wohnen, ich spüle auch das Geschirr. Ich weiß, dass ich sofort reinkommen dürfte, schließlich hat er mir vor einem Jahr angeboten, dass ich bei ihm wohnen kann, übergangsweise, bis das Kind auf der Welt ist. Aber ich weiß nicht recht. Ich bin zwanzig Jahre alt und sollte alleine klarkommen können, ohne von Mama und Papa und dem großen Bruder abhängig zu sein. Nein, ein gewisses Maß an Selbstachtung habe ich doch noch. Immerhin bin ich nicht wie diese Gruppe unten am Bahnhof, diese Drogen konsumierenden Penner. Gott sei Dank spiele ich in einer anderen Liga. Aber vielleicht sollte ich doch eine psychiatrische Klinik aufsuchen, erzählen, zeigen, erklären, was ich denke. Nur kann ich die Gedanken nicht in Worte fassen. Das ist ja schließlich auch deren Job, aber ich habe es schon so oft versucht, und da gab es niemanden, der mir helfen konnte, irgendetwas in Worte zu fassen. Das Einzige, was die immer mit Überzeugung gesagt haben, war:
»Pubertät, Tendenzen, Zwangsneurotiker, das geht vorüber, lebe dein Leben, Junge, mach dir keine Sorgen, wir warten mal ab.«
In einer psychiatrischen Klinik würden sie nur dasselbe sagen, und für die wäre ich doch nur Kleinkram – die würden meine Rituale mit dem Typen vergleichen, der meinte, sich in Hitlers Halbschwester verliebt zu haben, oder mit der Frau mit dem Ei auf dem Kopf, die meinte, sie sei eine Möwe. Nein. In einer psychiatrischen Klinik würde es mir nur schlechter gehen, ich würde mich verrückt fühlen und von dem Wahnsinn im Nachbarbett wahnsinnig werden. Nein. Es muss so gehen. Ich werde schon überleben. Ich muss mich nur mal ausruhen, schlafen, lange schlafen, ein halbes Jahr schlafen, dann wird sich das meiste von selbst lösen.
Mit dem Körperlichen habe ich nie große
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