Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
Vom Netzwerk:
Brille und Pferdeschwanz. Mir gegenüber sitzt das Mädchen, das im Café rumgeknutscht hat, ihr Zungenkusskamerad befindet sich zum Glück nicht im Raum, wahrscheinlich ein unbegabter kleiner Scheißer, seine Abwesenheit inspiriert mich. Das Mädchen, das sich ununterbrochen selbst im Spiegel angeschaut hat, während sie diesen Apfel in sich reinfraß, sitzt zwei Stühle links von mir. Die Frau in Schwarz leitet den Workshop. Weiter hinten im Raum sitzen die vier anderen Jurymitglieder, jeder mit einem Schreibblock, sie teilen sich einen Krug Wasser. Sie schauen uns an, tun aber so, als würden sie nicht schauen, schauen aber ununterbrochen, nehmen alles wahr, was wir tun und sagen und – vor allen Dingen – was wir nicht sagen. Die Frau in Schwarz erzählt, dass dies ein Workshop ist, der den ganzen Tag dauern und sehr intensiv sein wird, und dass wir frühestens um sechs Uhr heute Abend fertig sein werden. Sie sagt auch, dass wir uns ganz frei und auserwählt fühlen sollen, denn wir hätten ja bereits etwas gezeigt, das der Jury gefallen habe.

    »Und das gilt für alle hier im Raum«, wiederholt sie einige Male. »Jetzt wollen wir uns erst einmal kennenlernen und ein paar kleinere Übungen und Spiele machen. Heute Nachmittag spielen wir dann verschiedene Szenen, improvisieren, und ihr werdet außerdem individuellen Stimm- und Sprechunterricht erhalten. Bis nächsten Freitag werden wir dann die zehn ausgewählt haben, die in drei Monaten auf der Schule anfangen können. Am Sonntagabend werden wir euch eine Telefonnummer mitgeben, die ihr nächsten Freitag anrufen könnt. Dort werden dann auf dem Anrufbeantworter die Namen derjenigen vorgelesen werden, die angenommen sind. Aber jetzt … wollen wir einfach unseren Spaß haben.«

    Aus irgendeinem Grund fangen die Leute an zu klatschen. Ich denke mir, da kann ich genauso gut mitmachen, und fange auch an zu klatschen. Da hat sich der Applaus allerdings bereits gelegt. Die Stimmung im Raum ist manisch. Alle lächeln, zu viel und zu lange und zu oft. Ich auch. Ich versuche wirklich so zu sein wie all die anderen, versuche die ganze Zeit zu lachen und zur rechten Zeit ernst zu sein, doch ganz egal, wie sehr ich versuche, mich selbst und meine Persönlichkeit auszuradieren, bin ich doch immer zu sehen. Meine Kleider, mein Schweiß, meine Rituale, die Augen tief im Kopf liegend, das fettige Haar, die Strümpfe mit Löchern, die Wunden im Gesicht, die Leopardenflecken, die rausschauen, obwohl ich doch versuche, sie zu verbergen, die Stimme. Ich bin es nicht gewohnt, zu Menschen zu reden, und noch weniger, mit Menschen zu reden. Meine Stimme fühlt sich schwach an, es tut im Hals weh, wenn ich länger als fünf Minuten spreche. Man kann mich hören, aber ich murmele, die Wörter rennen davon, keiner begreift etwas von dem, was ich sage. Zum Glück bin ich in einer sogenannten Grotowski-Schule gelandet, wo der Körper das Hauptinstrument ist und nicht die Worte. Das Geplapper der anderen höre ich kaum, ich spüre nur den Geruch meines eigenen Schweißes und fühle mich wie ein Ballon, der im Zimmer herumschwebt und versucht, Kontakt zu den anderen Ballons aufzunehmen, die aber einfach nur auf ihren Stühlen sitzen und nicht richtig kapieren, warum dieser Ballon auf Stuhl Nummer drei ununterbrochen murmelt, anstatt wie alle anderen zu plappern. Ich sollte mir eine Odin reinpfeifen, ich werde steckenbleiben und überhaupt nichts auf die Reihe kriegen. Die Rituale liegen die ganze Zeit auf der Lauer und versuchen, das Hirn kaputt zu nagen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen und zum Wahnsinn zu treiben. Der Superidiot ist weg, der Clown ebenso, aber der Freak kommt immer näher.

    Der Typ mit dem Pferdeschwanz fängt an, von sich zu erzählen, wo er herkommt und warum er schon immer, wie er es nennt, ein Theatermensch war. Und dann, als eine Minute um ist und er mit physischen Ausdrucksmitteln von sich erzählen soll, fängt er plötzlich an, zu grimassieren und sich die Haare zu raufen, und das wiederholt er mindestens fünfmal. Alle im Raum lachen hysterisch und applaudieren. Ich verstehe nicht, was daran so entsetzlich witzig sein soll, aber ich versuche auch, hysterisch zu lachen, aber das Hysterische will nicht rauskommen. Dann bin ich an der Reihe. Ich sage es so, wie es ist: dass ich Kristinus Bergmann heiße und aus dem Norden komme, dass ich schon Wale und Eisbären geschossen habe und inzwischen freiberuflich als Radioreporter arbeite, sowohl in meinem

Weitere Kostenlose Bücher