Herr Tourette und ich
einmal Ove, der Südsame, dran, sich anzuhören, was man tun darf und was nicht.
Jetzt bin ich an der Reihe.
»Setz dich«, sagt der Rektor.
Ich setze mich auf sein weinrotes Plastiksofa. Es duftet immer noch nach Backpflaumen. Der Rektor sieht mich an. Nach zehn, vielleicht dreißig Sekunden:
»Aha, es heißt also, du würdest behaupten, eine Möwe habe deine Mathearbeit genommen und sei damit weggeflogen.«
»Genau.«
»Genau?«
»Genau das hat die Möwe gemacht.«
»Also«, sagt der Rektor und fährt in freundlichem und sicherlich pädagogisch wertvollem Ton fort: »Wir haben alle das Recht, zu sagen was wir wollen, ohne es weiter erklären zu müssen. Aber zu lügen anstatt die Wahrheit zu erzählen … ja, wie würde die Welt denn aussehen, wenn alle herumlaufen und einander anlügen würden? Also, in Vietnam …«
Vielleicht passiert es genau in dem Moment, als der Rektor »Vietnam« sagt, dass ich den Kontakt zu ihm verliere. Ich spüre, wie ich sitze, wie schön das Weichplastik des Sofas an meiner Hose reibt, wie schön es ist, die Hand das Weichplastik berühren zu lassen, es zu streicheln, das Geräusch. Der Geruch. Ich sitze mitten in einer Backpflaumentüte, von schönen und wunderbaren Düften umgeben. Es piekst im Kopf, kitzelt, ich will bleiben, hier sitzen, in die Backpflaumentüte einziehen, halleluja, das Gehirn ist zur Stelle, der Kopf auch, keine Unglücke geschehen, alle Köcherfliegen tot, Weltmeister wie ich, Wayne Gretzky und Ingemar Stenmark und yes Sir und … und dann, in weiter Entfernung, im Hintergrund … der Waffelteig kommt näher, drängt in die Tüte, der Waffelteig wird deutlicher, blubberndes Gebrabbel, ein bestimmtes und bekanntes waffeliges Blubbern, das weitergeht, als wäre das Blubbern zwanzig Jahre nonstop gelaufen, die Waffelstimme schubst mich wieder in die Wirklichkeit, zurück in die Schule, die Stimme wird deutlicher, und noch deutlicher und der Rektor sagt abschließend:
»… ja, so war es also in Vietnam, und du verstehst sicher … vergleichbare Dinge geschehen in der ganzen Welt, ja, Gerechtigkeit geschieht nicht von selbst, die muss man sich erarbeiten. Aber zu lügen und nicht zu sagen, wie die Dinge wirklich liegen, das ist … ja, wie würde denn die Welt aussehen, wenn alle herumlaufen und einander anlügen würden? So … nun kannst du gehen.«
Es ist, als würde ich aus einem Rausch erwachen, Zucken im Bauch :
»Backpflaumen sind gut«, sage ich, ohne es gedacht zu haben.
»Ja … doch, Backpflaumen sind gut«, sagt der Rektor und sieht weiter aus dem Fenster.
Ich drücke den Zeigefingernagel ins Plastiksofa, schön – Zucken im Bauch .
»Ja«, wiederholt der Rektor, »jetzt kannst du gehen.«
Ich gehe.
Der Rest des Tages fühlt sich gut an, als hätte sich der Backpflaumenduft ins Blut gedrängt und mir eine gehörige Dosis Schlafmittel verpasst. Zumindest ein paar Stunden lang fühlt es sich so an. Als ich nach Hause komme, muss ich vor dem Gartentor stehenbleiben, weil ein Flugzeug über das Dorf fliegt.
Es ist niemand zu Hause. An der Kühlschranktür steht, dass Papa unten in der Stadt an der Küste ist, Mama hat Nachmittagsdienst, die große Schwester trainiert Eistanzen, die kleine Schwester ist beim Treffen der Jugendtruppe von 4H. Ich toaste eine Scheibe Brot und ertränke sie in Erdnussbutter und Ahornsirup, stopfe mir das Brot in den Mund und gehe runter in mein Zimmer. Dann bleibe ich eine Stunde, vielleicht auch drei Stunden in meinem Zimmer. Spiele Hockey, zeichne ein paar Boeing 747, blättre im Walfängerguide ’78. Simens Boote sind auch diesmal mit auf der Liste, schon das dritte Jahr in Folge. Sinnlos. Vollkommen sinnlos. So gegen halb acht, kurz bevor die Fernsehnachrichten beginnen, öffne ich vorsichtig die Tür. Mama und Papa sehen immer die Nachrichten. Sie trinken Kaffee oder Tee, kommentieren, diskutieren, als würde jede Nachricht sie persönlich betreffen. Als ich jetzt die Tür aufmache, höre ich keine einleitende Fernsehmusik oder die Stimme eines Nachrichtensprechers, es ist still. Ich gehe zur Treppe. Doch. Sie sind zu Hause. Sie sitzen im Wohnzimmer, auf dem Sofa neben dem Bücherregal. Sie reden. Sie reden leise, ernst, sie unterbrechen sich nicht einmal gegenseitig. Papa steht auf, geht zum Telefon, wählt eine Nummer. Wartet. Ich schleiche näher heran, verstecke mich hinter Mamas gigantischer und hässlicher Keramikvase, die angeblich aus Kenia kommt, doch in Wirklichkeit hat die
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