Herr Tourette und ich
Nachbarin sie voriges Jahr auf der Gedankenbefreiungswoche im Gemeindehaus gemacht.
»Er scheint nicht da zu sein«, sagt Papa und legt auf. »Ich werde morgen in der Schule versuchen, ihn zu erwischen, vielleicht in der großen Pause.«
Dann verschwinden die Stimmen und gehen in eine Art Gemurmel über. Ich gehe wieder in mein Zimmer. Dann höre ich Schritte auf der Treppe. Papas Schritte. Er klopft an die Tür.
»Wer ist da?«, lüge ich.
»Wayne Gretzky«, lügt Papa.
»Komm rein.«
»Danke. Und, was machst du so?«
»Nachdenken.«
»Worüber denkst du nach?«
»Die Boote von Simen. Sie sind dieses Jahr wieder auf der Liste. Wie kommt denn das?«
»Simen weiß, was er tut.«
»Woher weiß er das?«
»Er hat das einfach drauf.«
»Wie, drauf?«
»So wie du. Du weißt, welchen Weg du zur Schule gehen musst. Simen weiß, wie man Wale harpuniert.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Nach zwanzig Jahren ist das ungefähr dasselbe.«
»Ich habe ihn lange nicht gesehen.«
»Er wohnt aber in Mosjøen.«
»Wann fahren wir mal hin?«
»Bald.«
»Er hat uns eine ganze Weile nicht besucht.«
»Er ist … er ist krank gewesen.«
»Simen ist erster Harpunier, so einer wird nie krank.«
»Er ist nur manchmal etwas zu durstig.«
»Aber er hat doch Geld, Millionen, schließlich ist er zum dritten Mal hintereinander auf der Liste.«
»Trotzdem ist er durstig.«
»Also, wann fahren wir nach Mosjøen und besuchen ihn und seine Schiffe? Bald?«
»Erst muss ich mit dem Freund von John Lachse fischen.«
»Mit dem Freund von John?«
»Er arbeitet mit Jugendlichen, als eine Art Arzt.«
»Warum denn?«
»Warum was?«
»Warum ist er eine Art Arzt?«
»Warum willst du erster Harpunier werden?«
»Um ins Schwarze zu treffen. Und um ein eigenes Schwimmbad im Garten zu haben.«
»Der Freund von John will kein Schwimmbad im Garten haben.«
»Und deshalb ist er eine Art Arzt geworden?«
»Naturheilarzt und Psychologe. Ja, genau. Und ich habe vor, mit ihm zu sprechen.«
»Worüber?«
»Über dich.«
»Über mich?«
»Natürlich zusammen mit dir.«
»Worüber?«
»Zum Beispiel darüber, warum die Möwe Mathearbeiten wegholt.«
»Weiß er das?«
»Auf jeden Fall wird er dafür bezahlt, sowas zu wissen.«
»Aber doch nicht so gut bezahlt, dass er ein eigenes Schwimmbad im Garten hätte.«
»Da hast du Recht.«
»Ja, das habe ich.«
Wer schert sich schon um den April?
(1978) Der Frühling lässt mich schaudern, er stört die Konzentration und macht mich schlecht gelaunt. Die Geräusche. Diese verdammten Geräusche. Die Vögel brüllen und blubbern und singen Heavy-Metal, und es pfeift in den Ohren, und ich verliere den Fokus und scheiß auf den Frühling. Die Gerüche. Diese verdammten Gerüche. Kuhscheiße, Schafkacke, Männerscheiße, Erde, nasse Erde, Wasser, verschwitzte Köcherfliegen, die Millionen von verschwitzten Köcherfliegenkindern kriegen. Ich sollte dem Frühling aus dem Weg gehen. Er ist sowieso total unnötig, steht nur dem Sommer im Weg, der meist dem Herbst und dem Winter im Weg steht. Ich liebe den Winter und hasse den Frühling. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Niemand wird mich je dazu bringen, den Frühling zu lieben oder auch nur zu glauben, dass er auch seine guten Seiten hat. Das einzig Gute am Frühling ist, dass er auch mal zu Ende geht und es dann mindestens ein Jahr dauert, bis er wiederkommt. Denn es kommt immer ein neuer Frühling. Draußen auf dem Meer weiß man kaum, welche Jahreszeit es ist, denn da ist man mehr auf die Arbeit als auf die Jahreszeiten konzentriert. Da draußen gibt es immer Meer, immer Regen und Kälte, Sonne und Wind auch, aber, zum Teufel, keine Köcherfliegen und keine Kuhscheiße, zu der man jeden Morgen aufs Neue aufwachen muss. Der Frühling schafft Gedanken, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Die Rituale drängen sich auf, können unmöglich unterdrückt werden … … mit dem Frühling kommt die Wärme, die Schweiß macht, die rinnende Körperflüssigkeiten macht, die Bazillen machen, die Ansteckung machen, die Krankheiten machen, die Tod und Verderben machen …
Und das ist alles im Grund die Schuld des Frühlings. Aber es ist genauso auch meine Schuld. Denn ich gehe dem Frühling nicht aus dem Weg, also vermeide ich die Gefahr nicht, also gibt es die Gefahr, solange es den Frühling und mich gibt. Im Frühling geht es mir schlechter, und zwar nicht nur in der
Weitere Kostenlose Bücher