Herr Tourette und ich
Schule, sondern auch zu Hause. Das Torritual braucht mehr Zeit, ich muss die Bewegungen wiederholen, die Unsicherheit wächst, ich verliere den Fokus, schlafe schlecht, werde müde. Selbst im Klassenzimmer bin ich jetzt gezwungen, mich mindestens dreimal hinzusetzen, ehe ich frei sein kann. Das Lachen und die Schreie und die Rufe machen mir Stress, und das »So, jetzt hat der Unterricht begonnen« der Lehrer noch dazu. Ich wünschte, ich würde mal krank, richtig krank, eine Lungenentzündung oder so, dann könnte ich von Mitte März bis Mai zu Hause im Bett liegen. Dann würde ich nicht rausgehen müssen, nicht durch die Tür zum Klassenzimmer gehen müssen, müsste mich nicht auf den Stuhl setzen, nicht vor dem Tor stehenbleiben, und vor allem wäre ich die Scheißgerüche und die Misstöne und die verschwitzten Köcherfliegen los. Ich würde gern wie ein Bär schlafen, allerdings mit dem Frühling schlafen gehen und aufwachen, wenn der erste Schnee fällt. Denn der Winter ist die gute Jahreszeit, reine Kälte und reiner Geruch, reine Gedanken und reine Bazillen. … im Winter schwitzt man nicht, die Bakterien erfrieren, die Bazillen sterben, keine Schreie, keine ekligen Gerüche …
Der Geruch von Neuschnee und die Stille, die damit einher geht, lässt mich konzentriert und guter Laune sein, der Körper ist leicht. Vielleicht läuft es in der Schule nicht besser, aber ich sehe dennoch Möglichkeiten und glaube mehr an mich selbst. Im Winter tauchen die Wale auf, im Frühling gehen sie. Der Herbst ist auch gut, vor allem von Mitte Oktober an. Das ist vielleicht sogar die beste Zeit des Jahres. Da kann jederzeit Schnee kommen. Spannend. Mir geht es gut, ich habe Spaß, werde schön, öffne mich, kämpfe wie Wayne Gretzky im Gegenwind, yes Sir, I can boogie.
Der Sommer ist ganz und gar nicht so gut wie der Herbst, nimmt aber in der Liste einen klaren dritten Platz ein. Den hält er deshalb, weil es Ferienzeit ist, also kein Stress, keine Ohrringe oder Fischpuddinghintern um mich herum. Außerdem habe ich im Sommer die Möglichkeit, das Dorf zu verlassen. Das allein schon ist wie ein Sechser im Lotto.
Der Frühling ist warm. Rot ist das Zeichen für Wärme. Rot sieht aus wie Blut, Blut wie Ansteckung, Ansteckung wie Tod. Der Frühling ist eine rote Jahreszeit, eine tote Jahreszeit.
Es sterben auch die meisten Leute im Frühling. Die allermeisten Menschen sterben im Frühling und werden im Winter geboren. So ist es einfach. Ich weiß, dass ich das irgendwo gelesen habe. … rot macht Blut, das macht Ansteckung, die macht Krankheit, die macht Tod …
Der Winter ist der reine Gegensatz. Ungefährlich. Gut. Blau ist das Zeichen für Kälte. Blau ist eine gute Farbe. Blau = Gut = Erfolg. Blaue Kleider sind gut. Güte. Meine Art, den Frühling zu bekämpfen, ist, mich blau zu kleiden. So gebe ich auf jeden Fall mein Bestes. Um dem Frühling einen Scheißschrecken einzujagen, ich gebe nicht auf und ziehe rote Sachen an, wie die anderen in der Klasse. Ich kämpfe für die Güte. Ich bin blau, und ich bin ein Kämpfer, und ich töte Bazillen nur mit der Farbe ab.
Ein Problem ist nur, dass die Fußballmannschaft des Dorfes weiße Hemden und rote Hosen hat. Ich versuche, die Hosen beim Training nicht anzuziehen, aber wenn ein Turnier kommt, habe ich ein Problem. Ich versuche, mit weißem Hemd und blauen Hosen aufs Feld zu laufen, und hoffe, dass es keiner merkt. Aber schon nach ein paar Minuten, als der Trainer begreift, dass ich vorhabe, in blauen Hosen zu spielen, ruft er mich raus und bittet mich, die roten Hosen anzuziehen. Ich weigere mich, wir streiten, und das Spiel wird für ein paar Minuten angehalten. Ich behaupte, die roten Hosen verloren zu haben. Aber da sagen sie nur, dass ich die von Harald, dem ewigen Ersatzmann, ausleihen könne. Vergiss es, ich will doch nicht in den verschwitzten roten Hosen herumlaufen, in denen sein Glockenspiel ein halbes Jahr lang zum Trocknen aufgehängt war. Ich tue so, als hätte ich Bauchschmerzen, und bitte, stattdessen auf der Ersatzbank sitzen zu dürfen. Alle akzeptieren meine Entschuldigung, vor allem Harald, der wie im Fieberwahn auf das Spielfeld rennt, um sein erstes Spiel überhaupt zu machen. Während des Spiels tue ich so, als ginge es mir schlechter, vor allem, wenn wir zu verlieren drohen, denn dann ist das Risiko, dass ich wieder rein muss, größer. Ich tue so, als müsste ich hinter die Ersatzbank kotzen. Der Trainer sagt, ich soll in den Umkleideraum runter
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