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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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mit einer Stimme, die ebenso klar und rein und chirurgisch ist wie das Türklopfen:

    »Lena?«

    Einundzwanzig, zweiundzwanzig:

    »Lena?«

    »Lena ist heute nicht da«, antwortet das Känguru mit gedämpfter Stimme, als würde er selbst auf Johan Gestapos Liste neuer Opfer stehen.

    Ich erhebe mich, blicke zu Elsie, lächele, versuche, ihren Blick zu fangen. Elsie ist verwirrt, kann sich nicht mehr auf die Liste konzentrieren, sie scheint aufzugeben, sieht mich an und …

    »Ja … du kannst mitkommen.«

    Zucken im Bauch, yes Sir .

    Ich liebe die Zahnarztpraxis, nicht den Zahnarzt.

    Ich bin nicht beim Zahnarzt. Ich sitze in einem Cockpit, in einer Boeing 747-400 Combi.

    Dieser wunderbare Stuhl – Leder, Armstützen, Mechanik zum Rauf- und Runterfahren, take-off- und touchdown-Technik. Vom Cockpitstuhl kann ich alle Instrumente erreichen, ich muss nur den Arm ausstrecken, mich vorbeugen oder ein wenig zur Seite lehnen. Alle Knöpfe und Hebel in Reichweite: Bohrer, Sauger, Spuckbecken, Fußstütze. Perfekt. Ruhig. Der Körper gleitet in genau den Rhythmus hinein, in dem es mir gut geht – rhythmische Freude Hand in Hand mit rhythmischem Zucken. Taktil und stabil.

    Nur noch wenige Minuten, bis ich die Starterlaubnis vom Tower bekomme. Gleich weg vom Gate, zur Startbahn, zur Küste, hinaus über den Atlantik und zu den United States of Canada – Zucken im Bauch, Stoßen, Arme raus, kleines Geräusch.

    »Was?«, fragt Johan Gestapo.

    »Fasten your seat belts«, wiederhole ich.

    »Den Mund bitte öffnen.«

    »Ready for take-off.«

    »Den Mund bitte öffnen.«

    »Fasten your seat belts.«

    »Jetzt mach schon den Mund auf.«

    »Engine 4, switch in, switch on …«

    »Jetzt sollst du den Mund …«

    »Boeing 747, ready for …«

    »Jetzt mach den Mund auf …«

    Irgendwo ist mir schon bewusst, dass das Gesicht, das sich nach vorn beugt, nicht meinem Copiloten und Ersten Offizier gehört, sondern Johan Gestapo. Ich öffne den Mund.

    Er führt den Speichelsauger ein, parkt ihn zwischen Zunge und Zähnen. Er dreht sich um, geht zum Handwaschbecken. Ich genieße das Geräusch – die Luft, die in meinen Mund bläst und sich in Jetluft verwandelt, die das Turboaggregat in Engine 4 anwärmt. Wunderbares Geräusch, gutes Geräusch, feines Geräusch. Johan Gestapo verlässt den Raum. Ich nehme den Speichelsauger aus dem Mund, betrachte ihn, befühle das Mundstück, das Plastik, das Gummi. Schönes Gefühl, ruhiges Gefühl, Ich-fühle-mich-wohl-mit-mir-selbst-Gefühl. Auf das Mundstück zu beißen hat dieselbe Wirkung wie Lachgas einzuatmen. Also beiße ich noch fester darauf, und noch fester, beiße hinein, beiße noch fester, beiße es ab, beiße das Mundstück ab. Johan Gestapo kommt ins Zimmer zurück. Panik – Zucken im Bauch, Zucken im Bein –, ich verstecke das Mundstück in der Hosentasche und mache das Speichelsaugergeräusch selbst, schschschsch . Hoffe, dass er nicht merkt, dass das Mundstück weg ist und dass der Sauger wie ein altes, frisiertes Husqvarna Grand Lux-Moped klingt.

    Aber Johan Gestapo merkt es.

    »Was zum …«, kriegt er gerade noch raus, ehe er plötzlich verstummt. Er schaut auf den Speichelsauger und ist so verwirrt, dass er wohl nicht begreift, wie das Mundstück einfach so verschwinden konnte. Ich mache weiter »schschschschschschsch« , immer noch ohne den Sauger im Mund. Elsie steckt ein neues Mundstück auf.

    »Mund auf«, sagt Johan Gestapo.

    Ich öffne den Mund mit einem »schschschsch« und schließe mit »Fasten your seat belts« ab.

    »Mach den Mund richtig auf.«

    Ich mache den Mund richtig auf. Jetzt schubst Johan Gestapo den Speichelsauger hinein und parkt ihn wieder zwischen Zunge und Zähne. Ich bin in Engine 4, beobachte den Luftzufluss, das Geräusch, die Jetströme. Im Hintergrund, vielleicht im Walkie-Talkie, höre ich, dass jemand versucht, mit uns Kontakt aufzunehmen, vielleicht der Chefmechaniker, denn der Chefmechaniker murmelt unausgesetzt:

    »Mach den Mund auf, damit …«

    Ich mache den Mund zum vierten Mal in vier Minuten auf.

    Das Telefon klingelt. Johan Gestapo muss rangehen. Und ich muss die Zahnspiegel anfassen. Das Gefühl. Das Sanfte. Das Metall. Wie wenn man die Cockpitschalter anfasst, die kleineren Hebelchen, diese kleinen, die den stabilen Stromfluss zu Engine 4 gewährleisten. Es geht mir gut, der Körper fühlt sich ruhig und angenehm an, kein Zucken, keine anstrengenden Impulse, nur anregende gute Impulse. Johan Gestapo kommt

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