Herr Tourette und ich
Gaskammer hocken. Es riecht nach Krankenhaus, Chemikalien, Schweiß, Bazillen. Das Jucken breitet sich über den ganzen Körper aus, es zuckt ein wenig im Bauch, auf dem Rücken schlägt es zu, unter den Armen kitzelt es, hinter den Ohren auch. Ich habe keine Chance, mich zu konzentrieren. Der Körper zieht es vor, einen Marathon zu laufen, statt in dieser Gaskammer zu sitzen und kaputt gejuckt zu werden. Ich kann dem Tempo von Fräulein Gemeinschaft nicht folgen. Sie redet schnell, dünn und piepst wie ein Vogel, wenn sie etwas besonders Wichtiges sagen will. Ich höre nur das Piepsen, nicht das besonders Wichtige. Es zuckt im Bauch, die Finger schnipsen, die Knie hüpfen, es kommen gedämpfte Geräusche – ich muss hier raus, ich brauche Luft. Die Hand fährt hoch, und noch ehe Frau Gemeinschaftskunde »Was gibt es?« fragen kann, bin ich schon auf dem Weg zur Tür und murmele »Muss aufs Klo, muss bloß aufs Klo«. Ich renne weg, runter in den Flur vorm Werkraum. Setze mich auf den Fußboden, neben die Tür, direkt beim Ventilator. Es ist warm und still, riecht nach Birken und Zuckerwatte. Ich sitze im Cockpit auf dem Weg über den Atlantik, der Autopilot ist eingeschaltet, ich trinke Kaffee, warte auf die Pfannkuchen, der Körper beruhigt sich, die Gedanken auch. Vielleicht schlafe ich ein, vielleicht auch nicht. Es ist, als würde mein Ausflug ein paar Minuten dauern, vielleicht zehn, vielleicht dreißig. Behutsam gehe ich die Treppe wieder hinauf und komme in die große leere Eingangshalle. Niemand da. Vorsichtig schleiche ich zum Naturkundetrakt. Alle sind nach Hause gegangen. Ich hole meine Schultasche, verlasse die Schule, finde einen Eispuck, den ich auf dem Nachhauseweg vor mir her kicke. Ich bin traurig. Weiß nicht warum. Bin überhaupt nicht gut drauf oder fröhlich, der Eispuck ist mir scheißegal, und ich gebe ihm einen richtigen Tritt mit dem linken Stiefel, so dass er auf der anderen Seite der Landstraße landet. Vor dem Gartentor bleibe ich stehen. Horche. Keine Flugzeuge.
Leise gehe ich in mein Zimmer hinunter, mache das Radio an, die Lokalnachrichten laufen bereits. Der Typ redet über dies und das, Wölfe an der Grenze, Unfälle auf dem Kreisel, Fischereihafen baut ab, Ölraffinerie baut aus. Ich mache die Schultasche auf, sehe die Gemeinschaftskundebücher. Nein. Es geht nicht, es ist hoffnungslos. Ich schaffe es nicht, die Bücher aufzuschlagen, sie gehen nicht auf, stattdessen mache ich mein Portemonnaie auf. Vielleicht hilft es, Quittungen zu sortieren.
Mama ruft mich. »Willst du was essen?«
Die kleine Schwester sitzt am größten Fenster. Sie zeichnet etwas mit dem Lineal, bestimmt hat das was mit ihrem neuesten 4H-Projekt zu tun. Die große Schwester ist noch nicht nach Hause gekommen. Mama und Papa trinken Kaffee, reden aber nichts. Ich lehne mich im Sofa zurück. Es tut ein wenig im Bauch weh, und dann fängt es an, in den Augen zu jucken. Ich merke, dass mir Augenflüssigkeit die eine Wange hinunterläuft. Mama nimmt mich in den Arm. Wir reden nichts. Mama wischt mir die Tränen ab. Papa schaut in seine Kaffeetasse, die kleine Schwester beißt aufs Lineal, Mama trinkt Kaffee. Wir reden immer noch nichts. Wir hören das Radio unten in meinem Zimmer. Aber ich schaffe es nicht, runterzugehen, der Körper fühlt sich zäh an, zäh und müde. Und ich bin traurig.
Die Stadt an der Küste
Am nächsten Freitag nach dem Mittagessen. Wir haben schulfrei. Es schneit. Papa und ich nehmen den Bus in die Stadt an der Küste. Die Fahrt dauert ungefähr fünfundzwanzig Minuten, je nachdem wie viele Leute ein- und aussteigen. An einem guten Tag steigen genauso viele aus wie einsteigen, scherzt der Busfahrer, jedoch lacht er nicht dabei. Er fährt den Bus von der Grenze im Osten zur Küste im Westen.
Ein ehemaliger Schüler von Papa besteigt den Bus. Sie unterhalten sich die ganze Fahrt lang, bis in die Stadt. Hauptsächlich geht es um Double-Wobble-Köder und Gyrodactylus , den neuen Lachsparasiten, der, wenn man der Lokalzeitung glaubt, fünfundsiebzig Prozent des Lachsbestands im Fluss ausrotten wird, und damit fünfundneunzig Prozent des Attraktionswerts des Dorfes.
Ehe der Bus ins Zentrum selbst fahren kann, muss er am großen Krankenhaus vorbei.
»Will jemand beim Krankenhaus aussteigen?«, ruft der Busfahrer mit ernster Stimme.
Keiner von uns vieren antwortet.
»Gut«, brummt er.
Auf diese Weise vermeidet er den Umweg am Haupteingang des Krankenhauses vorbei, der zehn
Weitere Kostenlose Bücher