Herr Tourette und ich
Strahler unter der Decke starre. Das Cockpit, wie würde das aussehen, wenn ich auf dem Boden des Cockpits ausgestreckt läge und direkt an die Decke starren würde? Die Sitze, die Hebel, die Decke, die Knöpfe, leere Kaffeetassen, eingetrocknete Pilotenstullen, Pilotenstullen ohne Salami, Piloten hassen Salami, Walfänger hassen Salami, die Wildschweine auch. Ich fische das alte Plastikmundstück aus der Hosentasche, klemme es mir zwischen die Finger, reibe es, drücke meine Nägel hinein – Zucken im Körper, Kitzeln im Bauch, kleines Geräusch, schön. Das Mundstückplastik lässt mich die Zuckungen, die Gedanken und die Rituale dämpfen. Weder Johan Gestapo noch Elsie merken etwas, sie sind vollauf damit beschäftigt, mich dazu zu bringen, stillzusitzen. Sie sehen nicht, wie die fünf Finger meiner linken Hand zwanzig Zentimeter unter dem Stuhlpolster effektiv und konzentriert arbeiten. Johan Gestapo beugt sich vor, zieht den Superbohrer zu sich ran, wirft ihn an. Das Geräusch dringt wie hundert Mohrrüben und fünfzehntausend geile Köcherfliegen im gemeinsamen Chor auf mich ein. Der Kopf wird gesprengt, das Gehirn geht kaputt, regnet in tausend Teilen über das Dorf herab. Ich sehe den Bohrer, den langen silbergrauen Arm, die Bohrerspitze, und ganz vorn an der Bohrerspitze, was ist denn das? Wenn jetzt, also, für den Fall, dass … war nicht Oskar gestern beim Zahnarzt, oder am Tag davor? Doch, das war er. Und klar doch, Johan Gestapo hat einen müden Blick und träge Gedanken, bestimmt hat er vergessen, die Bohrerspitze auszutauschen, deshalb kann es sich bei den kleinen Dingen, die da vorne auf der Bohrerspitze sitzen, durchaus um Salamireste handeln. Salamireste, die zwischen Oskars Zähnen saßen und wieder und wieder gekaut worden sind. Und jetzt hockt das Salamistück da vorne auf der Bohrerspitze und wartet nur darauf, in meinen Mund zu kommen und mich anzustecken, so dass ich so werde wie Oskar – dass ich einen Fischpuddingarsch kriege und für den Rest meines Lebens gezwungen bin, Mohrrüben und Salamischeiße zu essen, zum Teufel …
»Mach den Mund auf.«
»Nein.«
»Mach den Mund auf.«
»Nein.«
»Jetzt ist aber mal Schluss …«
»Salami …«
»Was?«
»Salamischeiße und Wildschweinhintern und …«
»Jetzt hör aber …«
Johan Gestapo gibt nicht auf, er fährt mit dem Bohrer auf meinen Mund zu, Panik – Zucken im Bauch, Schmerzen im Körper . Ich schwitze, kriege kein Wort raus, nichts funktioniert mehr, die Ansteckung nähert sich meinem Mund, weg mit dem Bohrer, weg, weg mit der Ansteckung …
Ich trete das Instrumentenbrett weg, reiße Saugschlange, Bürsten, Amalgam, Bohrerspitzen runter, laufe aus dem Zimmer, weiter durch das Wartezimmer und lande mitten draußen auf dem leeren Schulhof. Ich lehne mich an einen Pfeiler bei der Schwimmhalle, zehn Meter von der Zahnarztpraxis entfernt. Ich schwitze, zittere, mir ist übel. Hinter mir geht eine Tür auf. Johan Gestapo steht in der Tür, er zieht den Mundschutz runter, sein Gesicht ist rot wie eine Ampel, die Stimme glüht, er zeigt auf mich und ruft hinter mir her: »Ich weiß, wo du wohnst …«
Ich verstecke mich hinter der Schwimmhalle, knie mich hin, will mich übergeben, aber nichts geschieht. Ich setze mich neben einen grauen Zementmischer mit dem Logo der Gemeinde drauf – ein springender Lachs. Im Mund tut es weh, zum Teufel …
Geräusche. Jeden Moment kann ein Flugzeug über das Dorf fliegen. Ich ziehe meine Stiefel aus und forme sie zu einem Flugzeug. Ich stelle mich neben die Stiefel, sehe zum Flugzeug hinauf, das fast lautlos über das Dorf schwebt, auf dem Weg hinaus auf den Atlantik, nach Kanada, Toronto. Nur wenige Minuten später ist das Flugzeug weg. Vier Kondensstreifen liegen noch über dem Dorf, sie sehen aus wie kilometerlange weiße Strohhalme. Vier Rolls Royce-Jetturbinen. Schön – Zucken im Bauch . Nach ein paar Minuten haben sich die vier Strohhalmstreifen mit den anderen Wolken vermischen können und sind wieder in das übliche langweilige Grießbreigrau übergegangen, das ständig über dem Dorf hängt. Ich werfe die Zahnarztserviette in den Zementmischer und schleiche mich zurück auf den Schulhof. Das Mundstück behalte ich. Das bleibt ein Geheimnis zwischen mir und dem Speichelsauger.
Und ich bin traurig
Wir haben Gemeinschaftskunde. Letzte Stunde an diesem Donnerstag, im Naturkundetrakt. In unserem Klassenzimmer ist Prüfung, deshalb müssen wir in dieser stinkenden
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