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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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vom Stuhl aufsteht und zum Fenster geht, hole ich einen Reißzwecken aus der Tasche und lege ihn auf den Stuhl. Bevor ich an meinen Platz zurückgehe, sage ich lächelnd zu dem Lehrer, der inzwischen den Reißzwecken entdeckt hat, »setzen Sie sich doch«.

    Zwei von drei Lehrern sind dann ein wenig verärgert, auch irritiert, und auf Dauer werden sie wütend. Nach einer Reihe von Reißzwecken warten die achtundneunzig Stufen zum Backpflaumensofa.

    Anton wird nicht wütend. Er begegnet dem schrägen Verhalten meinerseits mit einer schrägen Handlung seinerseits. Ich lege mitten im Unterricht einen blauen Reißzwecken auf Antons Stuhl.

    »Setzen Sie sich«, sage ich frech.

    Und was macht Anton? Klar, er setzt sich. Er setzt sich auf den Reißzwecken und fährt mit dem Unterricht fort.

    Ich kann mich nicht erinnern, wie ich in dem Moment aussehe oder was ich denke. Die ganze Klasse sitzt mit offenen Mündern da. Ich gehe verwirrt in meine Bank zurück, und Anton bleibt sitzen. Und er sitzt. Und er unterrichtet, als wäre nichts geschehen, als wäre der Reißzwecken Luft und ich ein Furz im Atlantik. Und es ist noch nicht vorbei. Gegen Ende der Unterrichtsstunde steht er langsam auf. Der Reißzwecken sitzt immer noch fest in den Hosenboden gebohrt. Anton nimmt den Stift langsam und methodisch raus. Er legt ihn auf die Handfläche, sieht ihn sich an, betrachtet ihn, dann legt er den Reißzwecken wieder auf den Stuhl. Als er das getan hat, sieht er mich an und sagt mit größter Selbstverständlichkeit:

    »Jetzt bist du dran …«

    »Was …?«

    »Setz dich …«

    »Nein …«

    Plötzlich erhebt er die Stimme:

    »Jetzt setzt du dich, so wie ich es getan habe. Ich habe eine halbe Stunde lang auf dem Reißzwecken gesessen, da kannst du wohl die verbleibende Viertelstunde darauf sitzen. Ein bisschen Gerechtigkeit muss schon sein.«

    »Nein, ich …«

    »Setz dich.«

    »Ich kann nicht …«

    »Du kannst, und du willst, und du wirst es tun.«

    »Nein, ich …«

    »Ach was … und was würde Wayne Gretzky machen?«

    Pause.

    »Okay, gut …«

    Ich setze mich vorsichtig auf den Stuhl, ganz auf die Kante. Anton sagt:

    »Richtig drauf. Setzt dich richtig auf den Stuhl, so wie ich es getan habe. Ein bisschen Gerechtigkeit muss schon sein.«

    Ich setze mich mitten auf den Stuhl. Nach einer Sekunde ungefähr spüre ich den Schmerz, wie sich der Reißzwecken durch die Hose arbeitet und in den Hintern, verdammte Scheiße, elender Hinternpiekser .

    »Bleib sitzen«, sagt Anton.

    Ich bleibe sitzen, der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen.

    Und Anton unterrichtet weiter, und er muss nie wieder auf einem Reißzwecken sitzen.

    Mir ist langweilig, und die innere Unruhe und Energie beginnen wieder mal zu arbeiten. Und ich kann einfach nichts an dem ändern, was geschieht.

    Wörter, die eigentlich nichts bedeuten, Wörter die einfach kommen, die auftauchen und mit der Zunge als Quirl herausblubbern. Eine Zeitlang mache ich unkontrollierte Geräusche, und das ist schön. So schön. Es geht mir gut, wunderbar, nachdem ich die Energie aus mir raus habe und der Körper von monotonen Lauten befreit ist, muuuuuuuh wie eine Kuh oder uuuuuuuuuu wie ein Wolf oder brrrrr wie eine Jetturbine.

    Die meisten sagen nichts. Vielleicht, weil es nicht so oft geschieht, vielleicht weil sie es für einen Witz halten, eine Methode des Klassenclowns, Aufmerksamkeit zu erringen.

    Die Geräusche schlagen wie der Blitz ein. Langweilig = Zucken im Bauch = innere Energie = es geschieht einfach = muuuuh . Es fängt oft mit einem leisen mmm … an und geht dann in ein stärkeres und längeres muuuuuuh über.

    Natürlich wird die Umgebung verärgert, wiederum eine menschliche, aber nicht sehr erfolgreiche Methode mir zu begegnen. Manchmal oder meistens eigentlich kriege ich zu hören:

    »Schluss jetzt, es reicht, das ist nicht witzig, noch ein Mal, und du gehst rauf zum …«

    Anton sitzt vor der Tafel und schreibt etwas hinter seiner Tasche, die auf dem Katheder steht. Ich sitze und denke nach, sehe aus dem Fenster, träume. Aber die Phantasie trägt mich nicht fort, es wird nichts daraus, bringt nichts, sie stirbt ab. Ich sehe mich in der Klasse um, alle sitzen vorgebeugt, ich sehe Oskars Hintern, die perfekten Haare von Jomar, Lenars Bleistift, dieselben Gerüche und Farben und Eindrücke wie immer – Zucken im Bauch + ein leises mmm, das in ein lauteres muuuuuuuuh mündet.

    Plötzlich hören wir wie aus dem Nichts hinter der

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